Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Raffaela Rudigier · 13. Feb 2018 · Literatur

Feinfühligkeit und detailreiche Recherche - „17 Erkenntnisse über Leander Blum“ von Irmgard Kramer

Die Vorarlberger Autorin Irmgard Kramer hat einen neuen Jugendroman herausgebracht: „17 Erkenntnisse über Leander Blum“ handelt von besten Freunden, der ersten Liebe und vor allem ist es eine liebevolle Milieustudie, ein Eintauchen in die Welt der Graffiti-Kunst.

„17 Erkenntnisse über Leander Blum“ handelt von den beiden besten Freunden Leander und Jonas. Sie sind fast volljährig und kennen sich seit ihrer Geburt – da sie im selben Krankenhaus am selben Tag auf die Welt gekommen sind. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist seit jeher das Malen und daraus wurde irgendwann das Sprayen. Sie machen sich in der Szene einen Namen unter dem Pseudonym Blux. Ihre „Pieces“ und „Tags“ findet man überall in der Stadt an Mauern, U-Bahn-Waggons und in verlassenen Fabrikgebäuden. Die Illegalität ihrer Beschäftigung wird verschärft durch den Umstand, dass Leanders Vater Polizist ist und dabei Jagd auf Sprayer macht.

Zwei Erzählstränge

Irmgard Kramer zieht die Geschichte anhand von zwei Erzählsträngen aus der Ich-Perspektive auf: einerseits erzählt Leander von seinen Erlebnissen mit Jonas, den Träumen vom perfekten Platz für ein „Masterpiece“ und von seiner unglücklichen Liebe zu Rapunzel, dem Mädchen mit den langen blonden Haaren, das für ihn unerreichbar ist.

Leanders Kapitel sind jeweils Zitate von Kunstkritikern, Kunsthistorikern, Sammlern, Künstlern oder Galeristen vorangestellt. In der hochtrabenden Kunst-Sprache von Ausstellungen und Katalogen beschreiben sie Leander Blums Werk und stellen ihm dabei nur die besten Zeugnisse aus. Dieses seltsam-witzige Paradox von Straßenkunst und Kunstbetrieb lässt an das Streetart-Phänomen Banksy denken, welcher durch die Welt der Kunst plötzlich geadelt wurde: vom illegal tätigen Streetartist zum begehrten Objekt von Sammlern. Unter den vorangestellten Zitaten stehen – wie bei Bildern in Ausstellungen üblich - jeweils Gemäldetitel, wie „crack of dawn“, „sanctum“, „the priests factory“, dazu jeweils die genauen Maße der Kunstwerke und die benutzte Technik. Diese Titel lassen die folgenden Geschichten teilweise erahnen und machen neugierig.

Abwechselnd zu Leanders Perspektive wird die Geschichte auch von Lila erzählt. Sie kommt gleich zu Beginn des neuen Schuljahres zu spät und muss deswegen den letzten freien Platz nehmen, der übrigbleibt: der Platz neben Leander Blum. Das macht Lila nicht gerade glücklich. Leander Blum ist zwar wahnsinnig hübsch mit seinen blauen Augen und seiner dunklen Haut, aber um sich herum scheint er nichts wahrzunehmen. Er verschläft die Tage, läuft herum wie ein Gespenst und hat nicht viel Bock auf Konversation.

Die Lila-Kapitel sind mit griechischen Buchstaben betitelt: es beginnt mit Omega und hört mit Rho auf – insgesamt sind es siebzehn Erkenntnisse, die Lila über Leander zusammenträgt und die ihr Leben verändern.

Schmierereien oder hohe Kunst?

Irmgard Kramers Geschichte rund um Blux spielt vor dem Hintergrund eines globalen Phänomens, welches den öffentlichen Raum schon lange prägt und dabei trotzdem von vielen gar nicht gesehen wird: Graffiti.

Was für viele Menschen Vandalismus und Schmierereien sind, ist für andere hohe Kunst. Ob großflächig mit Bildern besprühte Wände oder mit Stiften gekritzelte Unterschriften (sogenannte „Tags“) an Hauswänden – Graffiti-Artists drücken sich in vielen verschiedenen Formen aus. Neben künstlerischem Ausdruck, Stadtverschönerung und Farbenliebe geht es dabei mitunter auch darum, der Stadt seinen Stempel aufzudrücken. In manchen Städten springen einem gewisse „Tags“ an jeder Ecke ins Auge. Das ist nicht immer schön, aber es gefallen uns ja auch nicht alle Werbungen, die uns von Litfaßsäulen, Häuserwänden und Plakatwänden entgegenleuchten. Für die einen also ein Akt des Widerstands, für die anderen eine illegale Straftat, die von der Polizei geahndet wird und mitunter hohe Geldstrafen für die Sprüher nach sich zieht. Dazu gehören wohl auch der Kick des Räuber-und-Gendarm-Spiels, Verfolgungsjagden und waghalsige Manöver an Bahngleisen.

Die Szene ist voller Codes, hat ihre eigene Sprache und lebt in einer Parallelwelt. Wo der normale Bürger graue Wände, Betonmauern und Zäune sieht, sehen Graffiti-Künstler „spots“ zur Verwirklichung ihrer Farbphantasien. Sprayer träumen von einem „Masterpiece“. Das kann zum Beispiel ein „whole train“ sein. Dabei geht es darum einen ganzen Zug zu besprühen, der dann bunt bemalt durch die Lande fährt und die Sprüher auch in anderen Städten bekannt macht und für den „fame“ eines „writers“ sorgt.

Schmaler Pfad der Glaubwürdigkeit

Will man über so eine eingeschworene Szene schreiben, kann man leicht in Klischees hineintappen. Interessiert man sich wirklich dafür oder sucht man nur ein leicht zu adaptierendes Umfeld für eine Geschichte? Der Pfad der Glaubwürdigkeit ist schmal. Oberflächlichkeit lauert überall. Genau hier kommen Irmgard Kramers Talent, ihre Feinfühligkeit und ihre detailreiche Recherche zu Tage. Diese Autorin macht nicht einfach nur ihre Hausaufgaben – sie macht sie sehr gut und sorgfältig.

Die Charaktere sind glaubwürdig. Der Sprachstil ist treffend gewählt und zeugt von Fachkenntnis, ohne dabei zu überzeichnen. Der Erzählstil ähnelt einem guten Serienplot: der Cliffhanger am Kapitel-Ende treibt die Lust am Weiterlesen stets voran, immer wieder werden kleine Details eingestreut, die erst nach einiger Zeit Sinn ergeben oder aufgelöst werden, der Leser blickt aus zwei verschiedenen Perspektiven auf den Verlauf einer Geschichte. Die jugendlichen Charaktere machen im Verlauf der Geschichte eine Entwicklung durch, verändern sich durch die Geschehnisse, die ihnen widerfahren.

Man muss schmunzeln bei der Vorstellung, dass die Autorin dafür tagelang mit dem Sprayer PEKS durch Wien gezogen ist, um die ultimative Wand zu finden, wie es in der Danksagung am Schluss erwähnt wird. Das ist herzhaft betriebene Feldforschung. Nicht zuletzt deshalb schafft es Irmgard Kramer auch, die Szene, ihren Antrieb und ihre Wünsche verständlich zu machen und ein liebevolles Bild einer oft zur Gänze unverstandenen Bewegung zu zeichnen. Der passende Soundtrack dazu wäre der Song „Grafflove“ von Skero.

Das Buch bleibt jedenfalls spannend bis zum letzten Satz. Alles in allem ein gelungener und empfehlenswerter Roman.

 Das Buch erscheint am 12.2.2018

Buchpräsentation
3.3.18, 20 Uhr
Alte Seifenfabrik, Lauterach

Irmgard Kramer, 17 Erkenntnisse über Leander Blum, Loewe Verlag, Bindlach 2018, 352 S., Hardcover, ISBN 978-3-7855-8911-3, € 18,50