Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Ingrid Bertel · 06. Feb 2018 · Literatur

Wie ein Blick in die Augen des anderen einen Menschen öffnet - „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger

Als Arno Geiger 2005 für den Roman „Es geht uns gut“ mit dem erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, war klar: Hier ist einer, der in die erste Reihe der Gegenwartsautoren gehört. Als er 2011 die Vater-Sohn-Geschichte „Der alte König in seinem Exil“ veröffentlichte, schwärmten Kritiker und LeserInnen von einer „neuen Sicht auf die Welt“. Jetzt legt Geiger den Gesellschaftsroman „Unter der Drachenwand“ vor – und einmal mehr ist klar: Es ist ein Buch, das Maßstäbe setzt, das die Fragen stellt, denen wir uns täglich stellen sollten: Was passiert mit dem Einzelnen in einer Gesellschaft, die ihre zivilisatorischen Errungenschaften aufgibt? Wie wird der Mensch durch Gewalt verformt? Und wie kann er unter diesem Druck Mitmensch bleiben?

Ich habe dieses wunderbare Buch langsam gelesen, sehr langsam. Ich wollte das Glück ausdehnen und keinen einzigen Satz in diesem Text verlieren. Arno Geigers Welt hat eine sinnliche Fülle und Lebendigkeit, die selten ist in der Literatur. Es ist eine Welt voller Tiere und blühender Pflanzen, voller wilder Kinder und angstvoller Mütter, voller zerbrechlicher Menschen – und zugleich ist es eine kalte Welt, in der die Trümmer einer menschenverachtenden Ideologie den Einzelnen verletzen und verletzend machen.

Veit Kolbe zum Beispiel - er kommt im Winter 1943 schwer verletzt an Körper und Psyche von der russischen Front zurück. Er ist 23, hat seine Jugend im Krieg verloren und weiß: „Sollte es etwas Freies in mir gegeben haben, hatte man es abgetötet, alles Freie betrachtete ich als Privatsache, und Privatsachen gab es nicht mehr, seit Jahren.“

Das Bedürfnis nach Schönheit

„Ich glaube, das Private im Menschen, das Bedürfnis nach Schönheit, nach Natürlichkeit ist unzerstörbar“, betont Arno Geiger im Gespräch. Schönheit hat bei ihm die Form der Aufmerksamkeit für den anderen, der kleinen, teilnehmenden Geste. Veit zum Beispiel hört durch die dünnen Wände seines Quartiers die Nachbarin, eine junge Mutter weinen, „mit einer sanften, rauen Stimme. Wenn das Weinen zu lange dauerte, tat ich ihr den Gefallen und ließ mit Gepolter einen Stiefel zu Boden fallen, damit sie erschrak. Dann fand sie aus dem Weinen heraus.“

Der Nazi-Diktatur aber liegt nichts an solcher Kultiviertheit, mehr noch: sie setzt alles daran, das Private zu zerstören. „Alles ist Masse im fünften Kriegsjahr“, benennt Arno Geiger die Situation, in der Veit Kolbe steckt. Er flüchtet vor den Nazi-Phrasen seiner Eltern an den Mondsee. Dort gibt es ein Lager für „verschickte“ Kinder – die tagein tagaus exerzieren, marschieren und turnen müssen. „Schwarzindien“ heißt der Ortsteil mit dem Lager – und die Korrespondenz aus Schwarzindien ist einer der Auslöser für den Roman gewesen. Ein anderer die Drachenwand, ein markantes Felsmassiv. Alle leben unter einer sinnbildlichen Drachenwand in diesem Buch. Der kalten Fläche des Mondsees setzt Geiger das Gewächshaus des „Brasilianers“ entgegen, in dem die Orchideen blühen und die Tomaten reifen.

Die Figur des Brasilien-Rückkehrers Robert Raimund Perttes gab es schon vor zehn Jahren, als Geiger am Konzept zu arbeiten begann. „Aber erst, als ich den Brasilianer nach vorne geschoben habe, wusste ich, jetzt kann ich das Buch schreiben.“ Perttes fühlt sich keiner Ideologie und keiner Gruppe zugehörig, er lebe „so aus dem völlig natürlichen Gestus“, sagt Arno Geiger. Und zu Veit Kobe sagt „der Brasilianer“, er käme ihm vor „wie eine Pflanze, die man einmal umtopfen müsste.“

Hypnotisierende Musik vom Grammophon hat Veit Kolbe in dieses Gewächshaus gezogen, die Suite Popular Brasileira von Heitor Villa Lobos und Rosita Serranos Schlager „Roter Mohn“. Von weiß gekiesten Wegen erzählt der Brasilianer, Mandarinen liegen darauf, und jeder darf sie aufnehmen und essen. Diese sanfte Gegenwelt bringt Wärme auch in den ins Mark erkalteten Veit, eine Brise Sommerleichtigkeit, eine Liebe gar, die Liebe zu Margot, der „Darmstädterin“, die mit ihrem Baby im gleichen Haus wohnt wie Veit und der er aus dem rauen Weinen heraushilft.

Das Trauma des Krieges

Solche kleinen, pathosfreien Gesten finden auch andere Figuren in diesem Roman. Nanni zum Beispiel, eines der „verschickten“ Mädchen, erweist sich als hellwach und von zartester Achtsamkeit, als Veit einmal mehr von einer Angstattacke geschüttelt wird. „Wie eine Sturzwelle kamen die Bilder und spülten mich in den kalten Schacht namens Krieg, geballt empfand ich alle Erniedrigungen des Sterbens, überzeugt, diesmal erwischt es mich, jetzt hat mich mein Glück endgültig verlassen, gleich geht das Licht aus.“

Ihre Mutter habe solche Zustände auch, erzählt Anni. Und nimmt vor dem Soldaten ihren Mut zusammen: sie sei verliebt. Das ist doch etwas Schönes, antwortet Veit. Da bittet ihn das Mädchen, der Mutter einen Brief zu schreiben, in dem genau diese Worte stehen: Verliebt sein ist etwas Schönes. Und zeigt ihm, was die Mutter zu Annis Verliebtheit schreibt. Es ist ein furchtbarer Brief: „Du hast dir den Weg in die Zukunft selbst versperrt! Denn eine Lehrerin kannst du mit deinem nun schlechten Ruf nicht mehr werden!“

Veit Kolbe ist im Innersten getroffen davon, wie brachial die Mutter diese junge Liebe in den Schmutz zieht. Gleichzeitig kann er die Bitte Nannis naturgemäß nicht erfüllen. „Sie schaute mich an, als erwache sie langsam. Und so, als habe dieser Umstand mit ihrem Problem zu tun, sagte sie mit plötzlicher Härte: „Wir werden den Krieg verlieren.““

Ein vielstimmiger Roman

Geiger verzichtet konsequent auf das Wissen von uns Nachgeborenen; er versetzt sich intensiv in die Situationen derer, die nicht wissen können, wie es weitergeht. Diese, sprachlich höchste Ansprüche stellende Erzählhaltung, ermöglicht uns LeserInnen einen Erkenntnisprozess, den nur die Literatur bieten kann. Wir erleben Moment für Moment, wie eine Haltung, ein Gefühl, eine Einschätzung entstehen und können sie deshalb reflektieren.

„Unter der Drachenwand“ ist ein vielstimmiger Roman. Neben dem Tagebuch von Veit Kolbe gibt es da die Liebesbriefe des 17-jährigen Kurt Ritler an Nanni („…du weißt, an einem Tag im Frühling klopft das Glück an deine Tür“), die Briefe von Margots Mutter aus dem zerbombten Darmstadt („Tante Emma und Onkel Georg sind zu siebzehnt in einen Sarg gekommen, lauter Knochen der Hausgemeinschaft.“), und die todtraurigen Briefe des jüdischen Familienvaters Oskar Meyer. Er ist mit seiner Frau Wally und dem kleinen Sohn Georg aus Wien nach Budapest geflüchtet. Ausgerechnet! Den älteren Buben, Bernili, konnte er nach England in Sicherheit bringen.

Der Zuschauer

Könnte man sich den Roman nicht auch ohne die jüdische Familie denken? Ist es nicht gefährliches literarisches Terrain, vom Holocaust auch/ neben/ mit anderem zu schreiben? Für ihn sei der Roman nicht denkbar ohne diese Familie, betont Arno Geiger. Denn Oskar Meyer ist anders als die Überlebenden der Shoah, deren Stimme wir kennen. Er ist ein Mann, der sich das Schlimmste nicht vorstellt. Noch unter den furchtbarsten Lebensbedingungen sucht er nach einer kleinen Freude für seine Familie. „Deutlich erinnere ich mich an zwei Dinge, an unsere Ankunft in Budapest, als ich Wally das Halstuch kaufte, wir waren so voller Glück, dass wir in Istváns Zimmer tanzten, lachend und weinend, bis wir atemlos auf Istváns Bett fielen.“

„Oskar Meyer hätte den Holocaust vermutlich nicht überlebt“, sagt Arno Geiger leise. „Von so einem wollte ich erzählen.“ Und er erzählt ohne Pathos, mit den kleinen Gesten, die er für alle anderen auch findet. Er habe beobachtet, dass die SS umso brutaler zuschlage, je mehr Menschen sich um einen Gepeinigten versammeln, schreibt Oskar. Wie fügt sich der einzelne in eine Hetzmasse? Wie entsteht diese Masse, die die Grenzen der Zivilisation niederbricht? Oskar Meyer hat es gesehen. Und wir LeserInnen sehen mit seinen Augen und werden es nicht mehr vergessen.

Veit wird bewusst, dass auch er ein solcher Zuschauer ist, darin besteht die Qual seines Traumas. „Und wenn Kinder den Soldaten die Stiefel küssten, hätte ich wetten können, dass hier gerade Entsetzliches passiert.“ Veit Kolbe hat damals weggeschaut, jetzt schaut er in sich hinein, und es graut ihm.

Einmal begegnet er Oskar Meyer, der als Zwangsarbeiter im Schneematsch steht, die Schaufel in der Hand, Wallys buntes Halstuch als letzte Erinnerung an sein privates Glück um den Hals. „Als der Mann meinen Blick bemerkte, schaute er einige Sekunden zurück mit bohrenden Augen und voller Vorwurf, dabei hielt er den Kopf trotzig hoch, als sei ihm der von dem Halstuch umschlungene Nacken erstarrt.“

Nein, man kann sich den Roman nicht ohne Oskar Meyer denken. Arno Geiger hat darüber geschrieben, wie ein Blick in die Augen des anderen einen Menschen öffnet, zur Mitmenschlichkeit befähigt und wie andererseits das Zuschauen und Wegschauen die Zivilisiertheit des Menschen zerstören. Darin besteht die schmerzhafte Aktualität des Romans.

Der Ziegenfuß

Einmal bringt der „Brasilianer“ Gurken und Radieschen ins Gasthaus, wo der Propagandaminister gerade aus dem Radio brüllt. „Und der Brasilianer sagte, für den Ziegenfuß finde sich hoffentlich bald eine gestrenge und gut gebaute Krankenschwester, die ihm eine für Geisteskranke gemachte Jacke anziehe.“ Veit Kolbe hört es mit an, ohne etwas zu sagen. Die anderen Zuhörer denunzieren den Gärtner.

 

Veits Weg führt ins Gewächshaus, das er pflegen will. Sein Weg führt zu Margot, die mit ihm im Gewächshaus Lieder hört, Tomaten erntet. Sein Weg führt ihn in ein privates, fragiles, lakonisch eingestandenes Glück: „Zwei, die für einige Zeit ihre Ruhe gefunden hatten, eine Ruhe, die nicht, wie so oft, mit Verlassenheit zu tun hatte, sondern mit Geborgenheit. In der Früh beim Kaffeetrinken, das Kind krabbelte am Boden, Margot saß am Tisch und hielt die Windeln des Kindes durch ständiges Stopfen am Leben, neue waren nicht zu bekommen, ein weiteres Zeichen dieser Glanzzeit. Ich lehnte am Fenster, wir redeten über Allfälliges. Mehr passierte nicht. Und ich weiß, es sind schon ereignisreichere Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist.“

 

Arno Geiger, Unter der Drachenwand, Hardcover, Verlag Hanser, ISBN 978-3-446-25812-9, 480 Seiten, € 26,80,-