Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Ingrid Bertel · 20. Feb 2018 · Literatur

Ackermanns Vermächtnis - „Drei Sekunden Jetzt“ von Hans Platzgumer

Mit „Drei Sekunden Jetzt“ legt Hans Platzgumer seinen sechsten Roman vor – und der hat einiges mit den Vorgängern gemeinsam.

Eines charakterisiert alle Protagonisten Hans Platzgumers aus: Sie sind vollkommen erstarrt. Ihre Einsamkeit ist so fundamental, dass sie ausschließlich damit beschäftigt sind, die elementarsten vitalen Funktionen aufrecht zu erhalten. Ihrem devastierten Innenleben entsprechen die menschenfeindlichen Orte, an denen sie sich aufhalten: Sebastian Fehr in der Arktis („Weiß“), Philippe in der Todeszone von Tschernobyl („Der Elefantenfuß“), ein namenloser Eisenbahningenieur in der libyschen Wüste („Transmaghreb“), Julian Ogert in der Atacama-Wüste („Korridorwelt“), Gerold Ebner auf einem Berggipfel („Am Rand“).

Jetzt also François Toulet, der mit lakonischem Witz betont, sein Ort zähle nicht zu den 10 menschenfeindlichsten. Obdachlos taumelt er durch die eisigen Winternächte von Montreal. Um nicht zu erfrieren legt er sich über das Gitter eines U-Bahn-Entlüftungsschachts. Das bisschen stinkende Wärme sichert die nächsten Minuten Überleben. François ist – wie alle die Helden aus Hans Platzgumers Büchern – ein ungeliebtes Kind. Seine leibliche Mutter hat ihn als Baby in einem Supermarkt ausgesetzt, ihren Einkaufswagen vor einem Bücherregal abgestellt, das Baby darin mit Schlafmitteln und Rotwein betäubt.

Traue niemandem!

Dass die bürgerliche Familie Toulet den Kleinen adoptiert, erlebt er als Verhängnis. „Niemandem kann ein Mensch mehr als seiner eigenen Mutter vertrauen, und meine ist im gleißenden Tageslicht verschwunden, das der spröde Asphalt und die Wellen spiegeln, die immerfort an die Küsten Marseilles schlagen.“ Gegen diesen Verlust des Vertrauens kommt die Adoptivmutter nicht an, der Adoptivvater aber versucht es gar nicht erst. Im Gegenteil. Er lässt den Volksschüler auf einen Baum klettern und befiehlt ihm, sich rücklings zu ihm herunterfallen zu lassen. „Vertrau mir. Ich fange dich auf.“ François gehorcht, der Vater lässt ihn ungerührt auf den Boden knallen. „Jetzt hast du die wichtigste Lektion deines Lebens gelernt, sagte er. Traue niemandem.“

François will die Toulets so schnell als möglich verlassen, unmittelbar nach der Matura. Das Vorhaben zieht er – ganz Platzgumer-Held - konsequent durch. Dann aber lässt er sich treiben. Irgendjemand wird ihn schon finden und aufnehmen.
Dieser jemand ist Lucy, die „große, starke, schwarze Schwester“, Findelkind wie er – nur dass Lucy in einem Rinnstein am Rand der Ausfahrtstraße von Dakar ausgesetzt wurde und ihr Überleben ein schieres Wunder darstellt. Wie François Toulet ist auch sie von einer bürgerlichen Familie adoptiert worden und in Marseille gelandet. Wie François scheint auch sie vollkommen ohne Bindungen – keine Kindheitsfreunde, keine elterliche Zuneigung, nichts. Lucy lebt bei Mat, mit dem sie undurchsichtige Geschäfte betreibt. Ob die beiden ein Paar sind, scheint François nicht weiter zu beschäftigen. Bisweilen hat er Sex mit Lucy, Verliebtheit, gar Zärtlichkeit gibt es dabei nicht.

Undurchsichtige Geschäfte

Auch François geht undurchsichtigen Geschäften nach. Offiziell ist er Portier in einem Hotel, das selten frequentiert wird, allerdings über atemberaubend schöne Zimmer verfügt: „Wir befanden uns ein Stockwerk unter Straßenniveau, aber als Le Boche die Holzjalousie der Balkontür öffnete, wurde das Zimmer mit einem Satz vom strahlenden, vom Meer gespiegelten Sonnenlicht durchflutet. Dieser kleine, nun selbst wie eine Sonne leuchtende Raum hing förmlich unter der Stadt und schwebte über der Dünung.“

Ein gewisses Schönheitsempfinden kann man François nicht absprechen, eine ausgeprägte Apathie auch nicht. Gleichgültig sitzt er tagein tagaus in seiner Portiersloge; hin und wieder erledigt er dubiose Botengänge. Was er da transportiert und verschlüsselt abgibt, will er nicht wissen. Bezahlt wird er recht gut.
Als sich ein Hotelgast namens Ackermann eines Tages bei Russischem Roulette das Leben nimmt, behält er dessen Abschiedsbrief, verlässt Marseille und versumpft in New York. Ein Freispiel am Flipperautomaten ist sein Lebenszweck, bis er in einer Bar zufällig mit Anni ins Gespräch kommt. „Besuch mich, wenn du willst“, kritzelt sie auf einen Zettel. Ist er wieder einmal gefunden worden? Jedenfalls verliebt er sich in Anni, und setzt sich in Bewegung. Das geht gründlich schief. „Meine ganze Trümmerwelt eine einzige Kritzelei. Eine blutverschmierte, zerknitterte Kritzelei“, erkennt er, über dem Lüftungsschacht liegend, auf Annis Zettel und den Abschiedsbrief Ackermanns starrend.

Dass er sich in eine Frau verliebt, mit der er eine betrunkene Stunde lang geplaudert hat, zeigt das Ausmaß von François‘ Einsamkeit. Dass er ihr blind über tausende Kilometer folgt, seine Weltfremdheit. Dass er ein wacher Beobachter ist, zeigen Sätze wie dieser: „Statt dass Völker aus aller Welt sich hier zusammenfanden, verloren sich ausgehölte, amputierte Kulturen nebeneinander, wie ich mich verlor.“ Das ist klug und hat nur einen Nachteil: Man mag einen solchen Satz François Toulet nicht abnehmen, nicht einem, der so völlig in sich zusammengefaltet ist. Platzgumers Roman erweist sich damit als ambitioniert – aber eben auch völlig überkonstruiert. Man lässt sich nicht gern so fest an die Hand nehmen: „Noch in der Abflughalle zerreiße ich Kuvert und Brief in kleine Stücke.

der Gleichgültigkeit entkommen

steht auf einem der Papierfetzen.

Drei Sekund“

 

 

Hans Platzgumer, Drei Sekunden Jetzt, Paul Zsolnay Verlag, ISBN 978-3-552-05885-9, 256 Seiten, € 22,70,-