Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Gerhard Wanner · 06. Feb 2019 · Literatur

Peter Melichars Monografie über Otto Ender - Ein Politiker mit Gefühlen und gottgewollter Mission

Erstmals erschien 2018 eine Monografie über Dr. Otto Ender. Autor ist der Mitarbeiter und Historiker des vorarlberg museums Dr. Peter Melichar. Ender gehörte zu den prominentesten Politikern Vorarlbergs im 20. Jahrhundert. Er war zwischen 1918 und 1934 Landeshauptmann und vom Dezember 1930 bis Juni 1931 wenig erfolgreicher Bundeskanzler. Seine Gegner verziehen es ihm nicht, dass er in den Jahren 1933/34 für den autoritär regierenden Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die „ständische“ Verfassung ausarbeitete, somit wesentlich zum „Austrofaschismus“ beitrug. Mit der Machtergreifung der Nazis 1938 verlor er auch seine Funktion als Präsident des Obersten Rechnungshofes, geriet in Schutzhaft und durfte den Gau Tirol-Vorarlberg nicht mehr betreten. Otto Ender ist eine umstrittene Persönlichkeit, und Melichar charakterisiert ihn auch als „unkonventionell – den politischen Stil, die Denkweise, sein Auftreten betreffend“.

Der Buchautor überrascht den Leser: Man stößt auf keine „übliche“ Biografie mit chronologischer Abfolge, sondern Ender wird uns in seinem Denken und Handeln von seinen verschiedenen „Schreibtischen“ aus nahegebracht. Und dann zu Melichars methodischer Vorgangsweise – diese ist in der Vorarlberger Geschichtsschreibung  ungewöhnlich. Er betreibt Mikrogeschichte, und an Hand dieser wird Ender im Geflecht mit seiner gesellschaftspolitischen Umwelt behandelt. Und dann eine absolut neue Methode in der Vorarlberger Geschichtsschreibung, schon längst fällig. Melichar dazu: „ … vielmehr geht es um Befindlichkeiten, Mentalitäten, Gefühlslagen, die durchaus historisierbar sind.“ Eine Biographie auf der Basis von Gefühlsgeschichte!

Gefühle und Politik

Gefühle wie beispielsweise Beleidigung, Eitelkeit, Enttäuschung, Ehre, Mitgefühl usw. werden anhand von Quellentexten rekonstruiert, gedeutet. Gerade diese Methode ist es, die uns den privaten Menschen Otto Ender sehr nahe bringt und die auch seine Handlungen verstehen lässt. Es macht nachdenklich und verhindert so vorschnelle (Vor-)Urteile. Die Vorgangsweise war nicht einfach: Denn nach Enders Überzeugung gab es „in der Politik nichts Verachtenswerteres wie die Instrumentalisierung von Gefühlen“. Der Landeshauptmann sprach damit die Politik von Demagogen und Populisten an: „Sie umschmeicheln die Masse und umschmeicheln ihre Eigensucht.“
Emotionen wirken sich auch auf den Charakter aus, auf politisches Handeln. Melichar ortet bei Ender grundsätzliche Haltungen: Dieser ist in erster Linie überzeugter Katholik in traditionellem Sinne, dazu aus dem Jahr 1928: „… es gibt keinen wahrhaften Volksführer, der nicht gläubig ist und vom Bewusstsein getragen wird, eine gottgewollte Mission zu erfüllen.“ Gegen „Gottlosigkeit“ war Ender daher unduldsam. Dazu kam „kühle Unerbittlichkeit“ gegen „Heimatlose, Vaganten, Flüchtlinge, Arbeitslose und Ausgesteuerte“, welche 1933 einfach aus Vorarlberg mit Hilfe einer Polizeiaktion abgeschoben wurden. Dahinter lässt sich die von Melichar angeführte „Maxime der Sachlichkeit“ vermuten, durchaus ein neuer politischer Stil, der sich vor allem zur „Bewährung“ von Krisen eignete. Enders Wahlspruch: „Was nicht unmittelbar erforderlich ist, um den jeweiligen Zweck zu erreichen, das muss unterlassen werden, das ist eine unstatthafte Vergeudung.“
Eine immer wieder aufgeworfene Frage war und ist die nach Enders „Demokratieverständnis“, war er doch mitverantwortlich für die autoritäre, teils an vatikanische Vorstellungen angepasste Staatsverfassung und selbst Diktator Dollfuß verdankte letztlich dem Kanzler Ender seinen Machtaufstieg. Wie war dies möglich? Denn Ender sprach sich vor 1933 wiederholt für die parlamentarische Demokratie aus, war skeptisch gegenüber einem zukünftigen Ständestaat und gegen die faschistoiden Heimwehren. Und vor allem, er war ein Gegner der Nationalsozialisten und bezeichnete ihre Ideologie, ihr Handeln als eine „schwere Psychose“, als eine „Gemütskrankheit“. Die Hauptursache für den Wandel vom Demokraten zum „Austrofaschisten“ fasst Melichar in einem Schlüsselsatz zusammen: „Otto Enders Enttäuschung über das Scheitern als Bundeskanzler beförderte die Vorstellung, in Krisen nur autoritär regieren zu können … .“

Enders Feindbilder

Nazis waren jedoch nicht sein einziges Feindbild. Gegenüber dem autoritären Tiroler Heimwehrführer äußerte er 1930: „Die liberale Staatsauffassung und die liberale Wirtschaftsauffassung und die kapitalistische Wirtschaftsordnung sind ohne Zweifel dem Christentum fremd … .“ Dieser traditionelle katholische Antikapitalismus hatte im industriellen Vorarlberg Breitenwirkung und war sicherlich mit eine der Ursachen, warum die Sozialdemokraten in Vorarlberg keine großen Erfolge aufzuweisen hatten. Gerade wenn es um die Sozialdemokratie ging, sah Ender in ihr den Hauptfeind für Gesellschaft und Kultur – etwas überraschend, hatte er doch bereits 1918 einen Sozialdemokraten in seine Landesregierung aufgenommen. Seine Vorstellungen zur Sozialdemokratie entsprachen nach Melichar einem „Zerrbild“: Ihre Politik machten sie fast ausschließlich über den „Terror“ der Straße, durch Obstruktion im Parlament und Streiks. Für Ender war diese Ideologie der Ziehsohn des bedeutungslos gewordenen Liberalismus. Mit ihrem Antiklerikalismus und den Parolen von Klassenkampf werde die gesellschaftliche Einheit und Harmonie gestört bzw. aufgehoben. Andererseits arbeitete Ender als Bundeskanzler professionell und korrekt mit den Sozialdemokraten zusammen.
Da Ender Parteiobmann der Christlichsozialen gewesen war, musste er auch gegenüber dem Judentum Stellung nehmen. Er war zweifellos wie viele seiner politischen Vorgänger in der Monarchie Antisemit, jedoch spezieller Art. Er hatte nichts gegen jüdische Privatpersonen und Unternehmer, jedoch gegen die enge personale und geistige Verbindung zwischen Juden und dem verwerflichen Sozialismus und Kommunismus. Die Idee des Klassenkampfes und der Revolution gehe auf beide zurück. Bemerkenswert, dass Ender Juden, selbst wenn sie österreichische Staatsbürger waren, als „Gäste“ bezeichnete, von ihnen gehe „gastvölkische Infektion“ aus. Melichar dazu: „Selbstverständlich war Ender als guter Christ nicht für Judenverfolgungen, sein Denken führte jedoch zwangsläufig zur Möglichkeit einer Verfolgung. Das Bild vom Parasiten legte dies nahe.“

„Musterländle“ Vorarlberg

Hat Ender in Vorarlberg bis in die Gegenwart Spuren hinterlassen? Seine ausgesprochen aktive Konjunkturpolitik in den 20er-Jahren machte Vorarlberg zum „Musterländle“, mit ein Grund für seine Ernennung zum Bundeskanzler im krisengeschüttelten Österreich. Unbestritten ist Enders Verdienst als wirtschaftlicher und administrativer Modernisierer, verknüpft mit „Sachlichkeit“. Selbst als „guter“ Österreicher behauptete er das Anders-Sein der Vorarlberger und deren mentale Verwandtschaft mit den Schweizern und Schwaben. Vorarlbergern entspreche auch eine spezielle Identität und ein positiver Volkscharakter mit gewissen Tugenden: „Besonnenheit, Ruhe, Ordnungssinn, Fleiß und Ausdauer.“ Bemerkenswert sei auch das angeblich starke und in der alemannischen Landesgeschichte verankerte Demokratie- und Selbstständigkeitsbewusstsein. Daraus ergab sich Enders Eintreten für Föderalismus und die Ablehnung des „Wiener roten Zentralismus“. Ender legte großen Wert auf gesellschaftliche Einheit und Zusammengehörigkeit, sie garantierten sozialen Frieden und machten es erst möglich, dass politische Ziele durchgesetzt werden konnten. Diese Einheit funktionierte jedoch nur bei ständiger Abgrenzung nach außen und der Pflege von Feindbildern.
Was blieb von Ender nach 1945? Sehr Vieles! Seine Renaissance erfuhr er nach 1945, wenn man etwa an die Landeshauptleute Ilg und Kessler denkt, oder an die missglückte Schiffstaufe von Fußach im Jahr 1964, als es um die Ablehnung des Schiffsnamens nach dem Sozialisten Renner ging. Und ganz zu schweigen von der „Pro-Vorarlberg-Bewegung“ in den 80er-Jahren. Der „Bruch“ der NS-Ära zwischen 1938 und 1945 führte kaum zu mentalen Veränderungen, traditionell-katholische Kontinuität war kennzeichnend. Melichars fleißiges und sorgsam mit Quellen dokumentiertes Werk trägt daher weit über die Person Enders hinaus wesentlich zum Verständnis Vorarlbergs selbst im 21. Jahrhundert bei. Leben wir heute in einem „anderen“ Vorarlberg?

Peter Melichar, Otto Ender 1875-1960. Landeshauptmann, Bundeskanzler, Minister. Untersuchungen zum Innenleben eines Politikers, Wien, Böhlau Verlag 2018, 369 Seiten, gebunden, ISBN 978-3205208266, € 30