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Ingrid Bertel · 15. Mai 2013 · Literatur

Ein gemeinsames Wort – Fabian Oppolzers Romandebut „Kein böses Kind“

Es war ein Unfall, daran besteht kein Zweifel. Aber wenn ein Lehrer mit seinen Schülern auf Klassenfahrt geht, übernimmt er eben Verantwortung. Wie weit geht die? „Assmarragg“ hat Simon gemurmelt, bevor er starb, und das war sein gemeinsames Wort mit Lisa, das wäre für die beiden Schüler der Beginn ihrer Liebe gewesen. Fabian Oppolzer legt mit seinem Roman „Kein böses Kind“ eine beeindruckende Erkundung von Schuld und Mitschuld vor.

Literaturfreunde konnten Fabian Oppolzer bereits in der Reihe „Junge AutorInnen“ kennenlernen. Da präsentierte der in Vorarlberg aufgewachsene und jetzt in Wien lebende Autor erste Kostproben aus einem Romandebut, das vor allem mit seinen atmosphärisch dichten Bildern beeindruckt.

Nikolaus Nepomuk Nachtigall hat zwar einen Namen, der ihn für dumpfe Schülerscherze geradezu prädestiniert, aber die Scherze kommen nicht. Nachtigall ist beliebt und erlebt in der Klasse zum Beispiel eine lebhafte Diskussion über König Ödipus. „Jeder will eigene Entscheidungen treffen“, meint Simon. Und drum blendet sich Ödipus, auch wenn er sich ohne Wissen schuldig machte: „Als Ödipus erfährt, was er angerichtet hat, will er auch dafür geradestehen. Ob er nun etwas dafür kann oder nicht. Er zieht für sich und sein Leben die Konsequenzen.“

Ein anderer Ödipus


Simon ahnt nicht, dass er seinen Lehrer in genau diese Lage bringt. Zusammen mit Lukas und Samuel verunglückt er tödlich während einer Klassenfahrt nach Griechenland. Nachtigall kehrt grau, krank, zerstört zu seiner Familie zurück. Seine Frau Maria indes findet keinen Trost. Sie scheint genauso abgrundtief traurig. Den behinderten Buben Paul, den die beiden adoptiert haben, lehnt sie immer brachialer ab, gerät in den Sog von Erinnerungen an jugendliche Selbstmordversuche. Psychisch instabil sind auch die Schüler.

„Als ich ein Kind war“, erzählt Lisa, „spielte ich mit meinem kleinen Bruder ein Spiel. Wir zählten bis drei und sagten dann gleichzeitig ein erfundenes Wort. Mein Bruder war damals sieben oder acht und den ganzen Tag über im Krankenhaus. Er war davon überzeugt, geheilt zu werden, würden wir zufällig genau das gleiche Wort sagen.“ Das gemeinsame Wort finden die beiden Kinder nicht, und Lisas Bruder stirbt.

Unerklärliche Taubheit


Eine bedrückende Schuld zieht sich durchs Leben aller Protagonisten in diesem Buch, und eine fiebrige Suche nach dem gemeinsamen Wort, das es vielleicht doch gäbe. Doch die Suche bleibt verkapselt im getriebenen Ich. Wie Maden fressen sich Nachtigall und seine Frau, Samuel, Lisa und Simon durch ihre Tage. Erschrocken sehen sie auf die emotionale Taubheit des jeweils anderen. Nachtigall sieht auf einem Bauernhof fünf junge Kätzchen. Er greift nach einem, nimmt es auf den Arm, „spürt sein Herz in seiner Hand pochen“. Doch Sohn Paul hat nicht das geringste Interesse an diesem jungen Leben. „Paul will Sachen, die blinken, Hebel haben, Knöpfe zum Drücken.“

Einen wunderbar hellen Blick richtet Oppolzer auf die Schüler, die bedroht scheinen von dieser kaputten Erwachsenenwelt, der sie sich mehr oder weniger gezielt zu entziehen suchen. Samuel foltert seinen Lehrer mit beeindruckender Renitenz: „Ich darf Ihnen doch widersprechen“, fängt er an, „das ist mein Grundrecht.“ Simon lässt Nachtigall abblitzen, als der mit ihm eine rauchen will. Und Lisa, die gelegentlich bei Nachtigalls auf den Jungen aufpasst, wird von beiden gleichermaßen blind angesteuert und weist beide gleich kühl zurück. Kinder sind sie nicht mehr, auch keine bösen Jugendlichen. Auch Paul ist kein böses Kind. Und Nachtigall oder seine Frau Maria sind auch nicht bös. Nur ist nichts heil in dieser Familie, nichts unschuldig, nichts unbeschwert. Und Maria tut am Ende, was die Stimmen ihr flüstern.

Fabian Oppolzer, Kein böses Kind, Hardcover mit Schutzumschlag, 216 Seiten, 19,90 Euro, Luftschacht 2013, ISBN 978-3-902844