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Leo Haffner · 07. Mai 2013 · Literatur

Der Beichtvater, die Nonnen und „himmlischer“ Sex – Eine Buchempfehlung: Hubert Wolf, „Die Nonnen von Sant‘ Ambrogio“

Rom, im Juli 1859: Eine Nonne ruft um Hilfe, man will sie vergiften, doch sie kann fliehen. Es kommt zu einem Prozess, in dem die Inquisition Unglaubliches aufdeckt: Im Kloster Sant‘ Ambrogio werden seit Jahrzehnten Nonnen als Heilige verehrt. Visionen, Dämonenaustreibungen, Segnungen per Zungenkuss, lesbische Initiationsriten und Wunder sind an der Tagesordnung. Zweiflerinnen werden beseitigt. Und hinter den Nonnen steht ein Netzwerk von Jesuiten mit besten Kontakten zu Papst Pius IX (Pontifikat 1846 – 1878).

Gott oder der Teufel


Die Hauptangeklagte im Prozess ist die schöne, junge Novizenmeisterin Maria Luisa. Sie wird von Jesuiten und hochrangigen Kurienmitgliedern hofiert und gefördert, die eine extrem konservative  theologische und kirchenpolitische Richtung vertreten. Angezeigt wird der Skandal durch eine Adelige aus Sigmaringen in Württemberg: Katharina von Hohenzollern. Sie bringt den Fall vor das Inquisitionsgericht und spielt damit natürlich den Gegnern des jesuitischen Netzwerkes in die Hände.

Im Prozess gegen das Kloster sind Konflikte in zugespitzter Form erkennbar, die das gesamte 19. Jahrhundert prägten und bis heute nicht ausgestanden sind. Der Fall zeigt außerdem, wie Frauen in einer von Männern dominierten Kirche Macht ausüben und wohin im Extremfall blinder Gehorsam, eine übersteigerte Frömmigkeit und sexuelle Unaufgeklärtheit führen konnten. Das Buch Die Nonnen von Sant‘ Ambrogio hat kein Religionsverächter geschrieben, sondern ein angesehener Kirchenhistoriker: Hubert Wolf ist Theologe, geweihter Priester und  Professor an der Universität Münster. In den Vatikanischen Archiven hat er die Akten eines einzigartigen Skandals aufgespürt, der in diesem Buch erstmals publik gemacht wird.

Das Charisma der Novizenmeisterin


In der meisterhaft spannend geschriebenen Erzählung Hubert Wolfs  geht es nicht nur um Mord, sexuellen Missbrauch und angemaßte Heiligkeit vor den Toren des Vatikans, sondern auch um die Macht des Papstes. Das  Kloster Sant‘ Ambrogio befindet sich mitten in Rom, zwei Kilometer vom Vatikan entfernt. Als „Madre Vicaria“ des Klosters verfügt Maria Luisa über ein Charisma, dem alle verfallen: die Äbtissin, die Nonnen, die Priester und die beiden Kurienkardinäle Costantino Patrizi und Karl August von Reisach. Sie lässt sich als eine Heilige verehren, regiert das Kloster und erfindet Rituale der lesbischen Liebe. Schließlich zieht sie auch  ihren Beichtvater in ihren Bann und ins Bett. Sie versteht es, durch fingierte „Himmelsbriefe“ den Skandal in Taten der himmlischen Gnade zu verwandeln. Eine Reihe von Nonnen behauptete, Gott habe Maria Luisa mit zahlreichen weiteren himmlischen „Gaben“ ausgezeichnet. Dazu gehörten ihre mystischen Entrückungen in Himmel, Hölle und Fegefeuer. Durch ihre „Aktionen in der Hölle“ zog sich Maria Luisa jedoch den besonderen „Hass des Teufels“ zu. Dieser kam daher nicht selten nachts zu ihr, um mit ihr zu kämpfen. „Am Morgen danach zeigte sie sich im Gesicht und Mund übel zugerichtet. Das Skapulier
[1] der Ordenstracht war in langen Fetzen zerrissen.“ Zufällig hatte sich in derselben Nacht auch ihr Beichtvater im Kloster aufgehalten.

Der außerordentliche Segen


Was den Beichtvater betraf, so stand, wie Maria Luisa später berichtete, der Empfang des
außerordentlichen Segens im Vordergrund: „Einmal ließ ich mich während dieser Vertraulichkeiten sehr entflammt von der Liebe Gottes sehen. Pater Peters hielt mich umarmt; ich lag auf seiner Brust; plötzlich führte er seine Hand unter mein Skapulier und dann in den Schlitz des Habits, schob das Kruzifix zur Seite und fing an, mit seiner Hand auf meiner Brust an der Seite des Herzens zu reiben, und zwar eine sehr lange Zeit …. Inzwischen verdoppelte er seine Küsse, sein Streicheln, seine Ausdrücke… Aber dabei spielte ich fast immer vor, von Sinnen zu sein oder mit dem Herrn beziehungsweise mit der Madonna zu sprechen.“ Pater Peters, so die Nonne, habe sie mit großer „Brunst“ geküsst, umarmt und „mit großer Vehemenz“ seine Zunge in ihren Mund eingeführt. „Was mich betrifft“, berichtete sie, „tat ich so, als ob ich mir dieser Akte nicht bewusst wäre, damit er an meiner vorgegebenen Reinheit und Heiligkeit nicht zweifeln würde“.  Danach habe er mit großer Begeisterung erzählt, dass er in jener Nacht an ihr die Schönheit wie die der Madonna gesehen habe.

Peters wollte seine Ausrufe ausschließlich im Sinn religiöser Verzückung und nicht sexuell verstanden wissen. Vor dem Inquisitionsgericht erklärte er: „Die Tat stimmt. Ich habe aber niemals eine weder unreine noch zärtliche Zuneigung zu dieser Nonne gehabt. Ich sprach solche Ausdrücke fast immer mit kaltem Herzen und sogar bekümmert und gelangweilt aus, weil ich mich davon überzeugen wollte, ich müsse Ehrerbietung und auch väterliche Liebe dieser Seele gegenüber zeigen, die ich für heilig hielt; es war kein Ausbruch von Lust, sondern absolut vom Willen beherrscht.“  Auch andere Handlungen, die er mit Maria Luisa begangen habe, dürften keinesfalls als Zeichen seiner Lust interpretiert werden. Es stimme zwar, dass Maria Luisa ihren Finger mit dem Himmelsring zum Zweck der Verehrung in seinen Mund „eingeführt“ habe, er habe ihn aber niemals „gelutscht." Verehrend küssen war für ihn ein religiöser Akt, lutschen dagegen ein erotisch-lustvoller Vollzug. Für die Moraltheologie des 19. Jahrhunderts war der Zungenkuss „vom Ziel wie vom Tatbestand her“ eine eindeutige Todsünde. Er war sogar auch Ehepartnern verboten.

Theologie als Mittel der Machtpolitik


Der Jesuit Pater Peters entpuppt sich im Verlauf des Inquisitionsverfahrens als vatikanischer Spitzentheologe und enger Vertrauter und Ratgeber des Papstes, und zwar in zentralen theologischen und machtpolitischen Fragen. Vor allem in der Frage, wie man dem modernen Zeitgeist und den Forderungen nach Freiheit der Religionsausübung sowie der Freiheit der Wissenschaft und Demokratie  entgegentreten könne. Das Vertrauen des Papstes in Pater Peters, der eigentlich Joseph Kleutgen heißt und aus Deutschland stammt, ist so groß, dass er ihn einlädt, das Unfehlbarkeitsdogma maßgeblich mitzuformulieren. Im Buch „Die Nonnen von Sant‘ Ambrogio geht es also um mehr als um das Thema Sexualität. Kleutgen ist der Chefideologe der neuscholastischen Bewegung, welche im 19. Jahrhundert  auf die Zentralisierung der ganzen katholischen Kirche hinarbeitet und die  Unfehlbarkeit des Papstes in den Vordergrund stellt. Der Einfluss jener Theologen in Europa, die mit der Aufklärung sympathisieren, soll vollständig zurückgedrängt werden. Die gesamte katholische Theologie wird auf  ein in Rom zentralistisch gehandhabtes ordentliches Lehramt eingeschworen. Thomas von Aquin wird zur Leitfigur der Neoscholastik. Es ist dies jener Kirchenvater, der die Todesstrafe gefordert hatte für Menschen, die den christlichen Glauben verlassen. Also genau das, was man heute in einigen islamischen Ländern sehen kann: die Verfolgung der Konversion durch die Todesstrafe.

Das Buch Die Nonnen von Sant‘ Ambrogio lässt sich lesen als Einführung in den Streit der katholischen Kirche mit der modernen Welt und der Aufklärung. Hierbei ist die Aufklärung gemeint, die den Menschen ermutigte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich so aus seiner selbstverschuldeten Abhängigkeit zu befreien.

Das Urteil des Kirchenhistorikers Hubert Wolf über Joseph Kleutgen lautet: „Der Jesuit wollte ein vorbildlicher Priester und besonders sittenstreng sein und war doch den Versuchungen des Weibes gleich mehrfach erlegen. […] Er wusste, dass Zungenküsse unmoralisch waren, und hatte seine Zunge gleich minutenlang im Munde der schönen jungen Nonne gelassen. Er war in den himmlischen Höhen theologischer Spekulation auf den Spuren des heiligen Thomas von Aquin zu Hause, aber den menschlich-allzumenschlichen Niederungen der praktischen Seelsorge in einem Nonnenkloster nicht gewachsen.“

Der erfolglose Protest der Kirchenhistoriker


Am 13. Juni 2000 schickten die katholischen Kirchenhistoriker des gesamten deutschen Sprachraums von Innsbruck aus ein Protestschreiben an den Vatikan. Sie brachten schwere Bedenken vor, nämlich gegen die geplante Seligsprechung des Papstes Pius IX. Sie wiesen mit Nachdruck auf die - aus ihrer Sicht - verhängnisvollen  „menschlichen und geistlichen Defizite“ dieses Papstes hin.   Er sei nicht in der Lage gewesen, die Ereignisse nach der  Revolution von 1848  nüchtern zu analysieren  und den  „liberalen Katholizismus" im Kirchenstaat vorurteilslos zu bewerten. In einer oft groben Schwarz-Weiß-Malerei habe er überall nur
Gott oder den Teufel am Werke gesehen. Der „katholische Liberalismus"  sei keineswegs  eine bequeme Anpassung der Kirche an den Zeitgeist gewesen, sondern vielmehr der Versuch, „die Kirche glaubwürdig“ zu machen „in einer Welt, die um den Wert der Freiheit kreiste“. Der Protest verpuffte wirkungslos. Am 3. September 2000 wurde Pius IX  von Papst Johannes Paul II selig gesprochen .

Auswirkungen der Politik des Papstes auf  Vorarlberg


In den vom Katholizismus dominierten Ländern Europas wirkte sich die Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit von Pius IX  negativ aus.
[2] In Vorarlberg war dies besonders deutlich zu spüren. Die katholisch-konservative Partei, die ab 1870 die Macht im Landtag übernahm, wurde gegründet, um die Ideen der Aufklärung  von Vorarlberg fern zu halten. Wer die liberale oder sozialdemokratische Partei wählte, beging eine schwere Sünde und wurde von katholischen Priestern mit Höllenstrafen bedroht. Was die Konservativen wollten, lief im Grunde auf die Errichtung eines Kirchenstaates Vorarlberg hinaus.


[1] Skapulier ist ein Überwurf über die Tunika einer Ordenstracht.

[2] Vgl.: Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Centure Europe. Edited by Christopher Clark, Wolfram Kaiser. Cambridge University Press 2003

 

Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’ Ambrogio. Eine wahre Geschichte, Gebunden, 544 Seiten, 24,95 Euro, C.H. Beck, München, 3. Auflage 2013, ISBN 978-3-406-64522-8