Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Ingrid Bertel · 28. Feb 2022 · Literatur

Der Mann ohne Antrieb

Nach den Bestsellern „Die Bagage“ und „Vati“ schreibt Monika Helfer ihre Familientrilogie weiter mit „Richard Löwenherz“.

Richard schaut dem Leben zu, und was er sieht, das malt er. Vor allem malt er Menschen, und alle richten ihre Blicke direkt auf die Betrachter. Nur nicht Putzi und Schamasch. Die sehen einander an. Aber dieses Bild malt Richard erst ganz am Ende seines kurzen Lebens und nach einer Zeit, die im Roman die „lange Leere“ heißt.
„Mein Bruder hatte den ganzen Tag über den ganzen Himmel in den Augen“, schreibt Monika Helfer auf der ersten Seite des Romans. Aber das Leben ist für Richard ganz und gar nicht himmlisch, das erfahren wir wenige Zeilen später: „Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der war damals schon tot, er hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen – Richard würde es mit dreißig tun.“

„aus der Unwirklichkeit heraus“

Warum hat Richard das getan? Monika Helfer versucht zu begreifen, und sie tut es im Gespräch mit ihrem Mann Michael Köhlmeier, der Richard ein guter Freund war und ihr der Partner im Leben und im Schreiben ist. Dieses Gespräch rückt vor allem einen Aspekt in den Mittelpunkt: die handwerkliche Qualität des Romans. Um einen Vergleich zu bemühen: Die „classic narration“, der „unsichtbare Schnitt“ des Hollywood-Films soll uns vergessen lassen, dass wir einen Film ansehen. Wir sollen in der Geschichte versinken. Dergleichen will Monika Helfer ganz und gar nicht. Immer wieder weist sie uns darauf hin, dass wir es bei „Richard Löwenherz“ mit einem Roman zu tun haben, erklärt, wie sie an diesem Roman arbeitet …
Das erzeugt Distanz und bedeutet Respekt. Jenen Respekt, den wir vor einem geliebten Menschen haben. Weil wir ihn lieben, wissen wir, dass wir ihn nur bis zu einem bestimmten Grad verstehen können. Und wir sind einverstanden damit, dass er sein Geheimnis für sich behält.
Wie war Richard, den sein Vater „Löwenherz“ nannte? „Was du da geschrieben hast“, sagt Michael, „das stimmt nicht.“ Richard, der so gerne Geschichten erzählte, dass alle ihn für einen „Schmähtandler“ hielten, habe sich nicht mit den Figuren identifiziert, die in seinem Kopf herumgeisterten. Nicht mit Jim Hawkins aus der „Schatzinsel“, nicht mit dem „Bahnwärter Thiel“ und auch nicht mit Eichendorffs „Taugenichts“. „Er hat diesen Figuren zugeschaut beim Leben, den angelesenen und den ausgedachten, er hat ihnen zugeschaut, was sie tun, und ist ihnen hinterher. Er hat sich nicht gedacht, wie wäre es, wenn ich der wär. Und er selber war sich auch so eine Figur.“

On The Road

Michael unternimmt ziellose Autofahrten mit Richard. Dabei hören sie Canned Heat, aber nur die Songs, die Alan Wilson mit heller, hoher Stimme singt, „Up The Country“ und „On The Road“. Manchmal erzählt Richard dann auch etwas ganz Privates. Nur redet er dabei, „als wäre er der Sprecher in einem Feature über die Gebräuche eines fernen Volkes.“
Heißt das, dass Richard sich selbst von außen sieht, als eine ganz fremde Gestalt? War er sich schon immer so fremd? Gab es ein Ereignis, das ihn so verändert hat?
Nach dem frühen Tod von Richards Mutter stürzt der Vater in eine derart fassungslose Trauer, dass er nicht mehr in der Lage ist, sich um seine Kinder zu kümmern. Die Geschwister wachsen getrennt auf, die Mädchen bei Tante Kathe in Bregenz, Richard bei Tante Irma in Feldkirch. Als die Schwestern ihn endlich einmal besuchen dürfen, erleben sie eine befremdliche Szene: „Richard reagierte nicht auf uns. Erst schaute er schräg auf den Boden, mir kam auch vor, dass er vor sich hin summte, wie ich es tat, wenn ich allein war und meine Sachen aufräumte; dann starrte er uns mitten ins Gesicht, aber es schien, als sähe er uns nicht.“

Lange Leitung

Schon als Kind verschwindet Richard tagelang, zieht sich zurück in eine Höhle und begreift nicht, dass er seine Tante damit in Verzweiflung stürzt. „Er habe eine lange Leitung, sagte Richard, das Kreuz seines Lebens sei, dass er eine lange Leitung habe.“
Monika Helfer zeichnet allerdings nicht das klinische Psychogramm eines Traumatisierten. Sie reduziert Richard nicht auf Befunde einer Analyse, sie begegnet seiner Fremdheit mit Staunen, auch mit Eifersucht, als Richard ihr seine Frau Tanja vorstellt. Und sie erzählt von einem Richard, der lieben kann – nicht so sehr Tanja, aber mit ganzem Herzen einen streunenden Hund, dem er den Namen Schamasch gibt, den Namen des babylonischen Sonnengottes. Noch mehr, wenn das möglich ist, liebt Richard Putzi, das namenlose Kleinkind, das von seiner Mutter Kitti einfach bei ihm deponiert wird.
Richard ist Schriftsetzer, und er ist so grenzenlos großzügig, weil ihn weder Geld noch Karriere, ja nicht einmal die Frauen interessieren. Sex, meint er, sei einfach zu wenig überraschend. Nachdem er sich von Tanja hat heiraten lassen, scheint er irgendwie in eine bürgerliche Existenz zu gleiten. Aber dann zerstören zwei furchtbare Ereignisse seinen fragilen Lebenswillen. Während einer Winterwanderung mit Putzi erschießt ein Jäger irrtümlich Schamasch. „Er konnte das Leid nicht ertragen. Und Putzi konnte es auch nicht.“ Und dann holt Kitti, die kalte Mutter, auch noch Putzi zurück. Richard hat alles verloren, was ihn am Leben hält. „Ich denke nach für sie“, schreibt Monika Helfer, „in ihrem Namen.“

Monika Helfer: Richard Löwenherz.
Carl Hanser Verlag, München 2022, Hardcover, 192 Seiten,
ISBN: 978-3-446-27269-9, € 20,95