Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Annette Raschner · 02. Mär 2022 · Literatur

Körbchengröße Minus A auf jeder Linie

Die Wahl einer Protagonistin oder eines Protagonisten ist eine knifflige Angelegenheit, sollte sie oder er doch in der Lage sein, die Leser an der Stange zu halten, damit diese das entsprechende Buch auch möglichst zu Ende lesen. Im Falle von Verena Roßbachers neuem Roman ist die Hauptfigur eine hemmungslose Tiefstaplerin, die schon im zarten Alter von zwölf Jahren für sich befindet, dass sie nie durch Anmut überzeugen würde. Ihre offenkundigen Minderwertigkeitskomplexe macht sie aber mit enorm viel Witz, Schlagfertigkeit und Originalität wett.

„Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" ist der vierte Roman der gebürtigen Bludenzerin, und er ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.„Mein Privatleben: ein Desaster. Mein Job: vollkommen überflüssig. Fachwissen in irgendwas: null".
Charly Benz ist 43 und fühlt sich wie eine Frau, deren Zeit schon abgelaufen ist. Die einstige Langzeitstudentin mit „Fächerkombinationen ohne Perspektive" ist in der Marketingabteilung einer veganen Berliner Food-Company mit Namen „LuckyLili" mehr gestrandet als gelandet und zieht eine ernüchternde Bilanz ihres bisherigen Lebens: „Ich hatte trotz meiner fünfzigseitigen, unvollendeten Seminararbeit zu Wittgenstein nicht die geringste Ahnung von Wittgenstein. Von Marketing aber verstand ich noch weniger. Das Interessante war: Es war egal. Ich hatte keine Ahnung von Marketing und machte einen guten Job".

Eine Liebesgeschichte?

Verena Roßbacher hat an den Beginn ihres neuen Romans einen Prolog gestellt, in dem sie zunächst einmal klar macht, was Autoren ihre Meinung nach NICHT tun sollten: über Sex und Träume zu schreiben. „Wenn ein Autor irgendwas durch einen Traum erklärt, stimmt was nicht. Er versucht, uns durch einen Traum was klarzumachen, was er mit seriösen Mitteln nicht hinkriegt, er versucht, das Unbewusste sprechen zu lassen". Hier hingegen handle es sich um eine Liebesgeschichte, „zumindest irgendwie".

Weder U noch E

Nein, Verena Roßbacher tappt weder in die Sex- und Traumfalle noch schreibt sie langweilige Befindlichkeitsprosa; auch dann nicht, wenn es um die Innenwelten ihrer tragikomischen Heldin geht, die – wie sie – unter anderem in der Schweiz aufgewachsen ist, dort mehrere Semester Philosophie, Germanistik und Theologie studiert hat, um schließlich in Berlin zu leben.
Als selbsternannte Liebhaberin von britischen Autorinnen wie Jane Gardam oder George Eliot lehnt sie wie diese die Trennung zwischen E und U (ernste Literatur und Unterhaltungsliteratur) dezidiert ab und erweist sich gerade in ihrem neuen Roman als eine der witzigsten und originellsten Stimmen der zeitgenössischen, deutschsprachigen Literatur. Stilistisch hinreißend und in höchstem Maße unverfroren lässt Charly – meist im Gespräch mit ihrem väterlichen Freund, Herrn Schabowksi – ihr bisheriges Leben Revue passieren, und dabei bekommen nicht nur Autoren wie Knausgård, Frisch, Bachmann und Kafka („die traurige Socke") ihr Fett ab.
„Die bisherigen Badewannenbader und Schachidioten waren irgendwie wie organische Organismen in mein Leben gewabert, wie kriechende Zellhaufen, die sich rasend schnell vermehrt und plötzlich meine ganze Wohnung eingenommen hatten, meine Badewanne ausgefüllt und den eh schon prekären Inhalt meiner Speisekammer verzehrt hatten".

Unterhaltung auf hohem Niveau mit maximalem Originalitätsfaktor

Klar, in ihrem erzählerischen Übermut macht die Autorin auch vor seichteren Gewässern nicht halt und schreibt beispielsweise auch über die Nachteile von Stringtangas und über mögliche Selfie-Varianten, um bei Tinder zu punkten. Aber nie verlässt sie den schmalen Grat, an dem es eventuell kippen könnte. Die Dialoge sind geschliffen und von einer Qualität, wie sie heute selten zu finden ist. Schließlich hat man es bei Charly Benz mit einer Protagonistin zu tun, die mit größter Fabulierlust und wilder Fantasie drauflos erzählt, flunkert, schwadroniert und über Gott und die Welt diskutiert, was das Zeug hält. Zum Beispiel mit dem Kulturjournalisten Hans Hänse Quandt, mit ihrem Nachbarn oder auch mit Herrn Schabowski, mit dem sie nicht nur zu Beginn des Romans, sondern auch im zweiten Teil, in dem die Geschichte mehrere überraschende Wendungen nimmt, einen Deal eingeht. Denn plötzlich geht es um viel mehr als um Avantgarde und Trendsettertum. „Aber er blieb am Fenster stehen und es war schwer und still in der Küche und ich merkte, wie wenig ich umgehen konnte mit dieser Situation, wie sehr ich mir einen Ausweg wünschte, einen Witz, eine ironische Wendung“. Und dann zünden gleich mehrere Bomben, es wird lustig und grenzenlos traurig, es gibt ein folgenschweres Dilemma (nein eigentlich drei!) – und überhaupt: In welchem Buch gibt es zu allem Lesevergnügen noch eine Extended Version für besonders Mutige?

Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 512 Seiten, Hardcover,
ISBN: 978-3-462-00119-8, € 24,95 (erscheint im März 2022)