Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Ingrid Bertel · 07. Aug 2011 · Literatur

Der etwas andere Buchtipp: Jiri Weil – ein vergessener Autor, der endlich Aufmerksamkeit verdient: „Mendelssohn auf dem Dach“

Das Leben des tschechischen Autors Jiri Weil spiegelt auf erschreckende Art die mörderische Politik des 20. Jahrhunderts. Als Jugendlicher begeisterte sich Weil für den Sozialismus – und erlebte eine brutale Desillusionierung, als er in ein sowjetisches Arbeitslager verschleppt wurde. Zwar gelang ihm die Flucht nach Hause – aber in Prag marschierte die SS. Jiri Weil überlebte den Nationalsozialismus als U-Boot. Wie? Davon kann sich eine Vorstellung machen, wer seinen Roman „Mendelssohn auf dem Dach“ liest. Dieser tragikomischen Geschichte gebührt endlich eine Aufmerksamkeit, die der Autor zu Lebzeiten nie erfuhr.

Der Autor als Patient

„Wie kann ein Schriftsteller wahrheitsgetreu das Leben in einem Krankenhaus vermitteln? Die Brüder Goncourt hätten das Krankenhaus besichtigt und sämtliche Details minutiös notiert. Dem modernen Autor genügt dies nicht. Er wird der Aufgabe nur dann gerecht, wenn er selbst schon im Krankenhaus gelegen hat.“ So beschreibt Jiri Weil 1957 sein künstlerisches Credo – und in seinem persönlichen Fall ist „Krankenhaus“ bei weitem untertrieben. Weil hat das Furchtbarste aus drei totalitären Regimen erlebt, war immer der Verfolgte, Gejagte, Verfemte. Und er war ein Mann, die niemals von Außen beobachtete, immer Mitleidender ist, tödlich erkrankt an dem, was die Politik Menschen zumutet. Er nennt die Krankheit beim Namen, bäumt sich dagegen auf – und verlässt sich in den bittersten Momenten auf seinen Witz.

Mendelssohn auf dem Dach, Heydrich in der Oper

„Eine Judenstatue vom Dach zu werfen, und dann noch einen Komponisten, das war keine Sünde. Eine Statue kann sich nicht vor dem Himmelsthron beklagen. Doch wer kennt Gottes Wege? Es ist schon vorgekommen, dass eine Statue eine Strafe vollstreckt hat. So eine Oper hatte Schlesinger einmal gesehen.“ Der dumme, abergläubische Magistratsbeamte Julian Schlesinger kennt zwar Mozarts Oper „Don Giovanni“, aber damit endet sein musikalisches Wissen auch. Blöderweise hat er einen Job aufgehalst bekommen, der ihn überfordert: Er soll vom Dach der Oper die Büste Mendelssohns entfernen, schließlich will Heydrich persönlich die Oper besuchen. Aber wie diesen Mendelssohn identifizieren, wenn die Statuen der Komponisten nun einmal nicht beschriftet sind?

„Endlich hatte Schlesinger einen Einfall: „Geht noch einmal an den Statuen entlang und guckt euch genau die Nasen an. Wer die größte Nase hat, ist der Jude.“ Die größte Nase aber hat Richard Wagner, der größte deutsche Musiker, jedenfalls wenn es nach Hitler geht. In der Oper hört sich unterdessen ein gelangweilter Heydrich in Gesellschaft des Generalgouverneurs Frank Mozarts Prager Symphonie an und denkt über seine grandiosen Aufgaben nach. Gerade kommt er von der Wannsee-Konferenz, wo ihm, Reinhard Heydrich, der Führer persönlich die Liquidierung der jüdischen Bevölkerung im gesamten Reich und in den unterworfenen Ländern als Aufgabe übertragen hat.

Das Zentralmuseum der ausgelöschten „Rasse“

Schlesinger hat sich mit seinem Mendelssohn-Problem unterdessen Hilfe suchend an den Leiter des Zentralamtes gewandt – der reicht die heiße Kartoffel umgehend weiter an Rabinowitsch, den Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Aber woher soll ein frommer Talmudgelehrter so weltliche Dinge wie Komponisten kennen? Jiri Weil dreht seinen bitteren Witz eine Spirale weiter. Er ist der Patient, der die Krankheit, die er beschreibt, am eigenen Leib erfuhr. Was er an Rabinowitsch beschreibt, hat er selber erlebt. Die Nationalsozialisten hatten ihn zur Mitwirkung an einem zynischen Projekt gezwungen: Er, der sich zuvor kaum für das Judentum interessiert hatte, musste nun Kultgegenstände katalogisieren, die sie aus den ländlichen Gemeinden Böhmens und Mährens nach Prag schaffen ließen, um dort ein „Zentralmuseum der ausgelöschten jüdischen Rasse“ zu errichten.

„Alle diese Gegenstände, die früher zum Gottesdienst benutzt worden waren, Thorarollen, Vorhänge, Thoramäntel, Thorakronen und Thorazeiger, hatten ihre Bestimmung verloren, waren Ausstellungsstücke oder Waren geworden, würden nie mehr durch den Glauben lebendiger Menschen zu Leben erweckt werden. Rabinowitsch half mit bei der Entweihung, unter seiner Aufsicht wurde alles übernommen, aus den Kisten ausgepackt, gelagert, sortiert und registriert.“

1939, kurz bevor er deportiert werden sollte, fingierte Jiri Weil einen Selbstmord. Er verbrachte die Kriegsjahre in wechselnden Prager Verstecken. Als er 1945 daraus auftauchte, war von seiner Familie niemand mehr am Leben. Im Verborgenen hatte er begonnen, sich intensiv mit jüdischer Geschichte und Tradition zu beschäftigen. Aber an diesem seinem Lebensthema war die offizielle Tschechoslowakei nach 1945 total desinteressiert. Bis 1956 hatte Jiri Weil Publikationsverbot. Als er 1957 an Leukämie starb, hatte ihn die literarische Welt vergessen. Dabei ist sein Vermächtnis, der Roman „Mendelssohn auf dem Dach“, in mehr als einer Hinsicht hellsichtig.

Ein Gespräch über Bäume

Ein Architekt taucht darin auf, Jan Krulis, ein Sonderling, der das Organisch-Gewachsene der Stadt Prag liebt, was den Protagonisten zunächst befremdet.

„Alle Leute ringsum sprachen von kahlen Wänden, weißen Kacheln, hygienischen Einrichtungen, mechanischer Musik und Küchenecken. Erst als er einmal mit Jan hinausgewandert war, um mit seinen Augen von oben auf die Stadt zu schauen, als er sah, wie sie aufragt, wie sie abfällt und ansteigt, den Fluss mit Uferstraßen umschließt, sich weithin stromauf und stromab erstreckt, gleichsam fest und unzerstörbar, da erst hatte er begriffen, weshalb Jan diese Stadt so liebte.“

„Von Menschen und Statuen“ – diesen Titel sollte Weils Roman zunächst tragen. Die Architekturmetaphern zeichnen den Nationalsozialismus. Darin können Menschen nur zu Stein erstarren: die einen durch ihre Macht, die andern, weil man sie aus der menschlichen Gemeinschaft stößt. Die Welt, die der Nationalsozialismus hinterlässt, ist eine Steinwüste – unfruchtbar und tot. Und doch wachsen auch am Ende von Weils Abschiedswerk wieder jene Bäume, die er so unendlich geliebt hat. Allerdings ist dieser Sieg des Lebens nur noch eine letzte Vision zweier jüdischer Mädchen, die unter den Schlägen eines SS-Mannes sterben.

„Die Bäume wuchsen, siegreich und unsterblich. Sie gaben, und sie dienten, und wenn sie sterben mussten, starben sie stehend. Sie waren kein totes Gestein, das zum Gedenken errichtet war oder als Drohung und Mahnung, sie waren das Leben, das den Tod überwindet.

„Im Wald“, flüsterten die sterbenden Mädchen Adéla und Gréta. Dort waren sie in der Stunde des Todes.“

Jiri Weils Roman „Mendelssohn auf dem Dach“ ist zuletzt 1995 im Rowohlt Verlag als Taschenbuch herausgekommen und zur Zeit nur gebraucht zu erhalten. Sein Erzählband „Sechs Tiger in Basel“ ist 2007 im Libelle-Verlag (ISBN: 978-3905707168) erschienen.