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Ingrid Bertel · 06. Mär 2013 · Literatur

Das traurige Mädchen und seine Freunde – Bastian Kressers Romandebut „Ohnedich“

Was ist Freundschaft? Wo beginnt Liebe? Und wie viel am eigenen Ich verdankt sich der Begegnung mit geliebten Menschen? Bastian Kresser erzählt von einer Jugend am Alten Rhein, von der beschwörenden Kraft des Erzählens und von der Traurigkeit, die ein Mädchen erdrückt. „Ohnedich“ ist ein beeindruckendes Romandebut.

Am Anfang sind sie Schüler, dann junge Erwachsene. Manchmal sind sie verliebt, aber immer sind sie Freunde – zwei Burschen und ein Mädchen. Das Mädchen ist von Anfang an Schriftstellerin. Einer der Burschen möchte auch erzählen. Aber wie geht das? „Du musst nur die Augen schließen und warten, bis die Personen vor dir Gestalt annehmen“, sagst du. „Dann musst du ihnen erlauben, sich miteinander zu unterhalten. Und du musst genau zuhören und alles aufschreiben, was sie sagen. Auch wenn du es manchmal nicht verstehst und dir ihr Verhalten unlogisch erscheint.“ Ist das die Stimme von Michael Köhlmeier? So schreibe er, hat Köhlmeier oft gesagt. Möglicherweise hat er Bastian Kresser diesen Rat gegeben, die beiden haben wiederholt zusammen an Übersetzungen gearbeitet. Vielleicht braucht Bastian Kresser aber auch gar keinen Rat. Er hat nämlich seinen ganz eigenen Erzählton, und der ist berückend.

„The bridge is love“

Kresser ist Anglist und hat sich intensiv mit Thornton Wilder beschäftigt. Ein Gedanke Wilders zieht sich als Spur der Empfindungen durch den Roman. Kresser zitiert ihn. Er stammt aus „Die Brücke von San Luis Rey“: „Even memory is not necessary for love. There is a land of the living and a land of the dead and the bridge is love, the only survival, the only meaning.“

Der Ich-Erzähler steht auf dieser Brücke und sucht nach einer Möglichkeit weiterzuleben. Er beschwört den Zauber der Freundschaft zu diesem Mädchen und zu Klaus in zahllosen Erzählsplittern. Sie spielen im Zimmer des Mädchens, am Alten Rhein, erkunden das Reich der Kindheit. Schon beinahe erwachsen, setzen sich die Freunde nochmals der Mutprobe aus, einen Regenwurm zu essen. „Viel Erde, ein wenig bitter und eine Prise Demütigung“, bedeutet das. „Vielleicht ein Hauch von Stolz.“ In den Spaziergängen, bei einem Picknick am Bodensee, einer Wanderung auf die Zimba, während eines sonnigen Nachmittags in Lech oder in einer Wiener Wohnung bei Kaffee, Tee, Süßigkeiten, guten Gesprächen und viel Marihuana bauen die drei sich ihre Welt. Aber es ist immer eine Welt, die erst in den Geschichten des Mädchens Wirklichkeit wird.

Träume im Kopf

Was heißt Wirklichkeit? Das Mädchen ist eine Lügnerin, behaupten die Mitschüler. Aber das Wort Lüge lassen die Freunde nicht zu, betonen, es handle sich um Unwahrheiten. „Du hast mir gezeigt, wie es ist, Träume im Kopf zu haben,“ versichert der Erzähler. „Das war der Grund, wieso du so oft die Unwahrheit gesagt hast. Bei dir hieß es Unwahrheit, bei jedem anderen würde ich es Lüge nennen. Du wolltest und konntest die Welt nicht so akzeptieren, wie sie war.“ Mit ihren Träumen, den Unwahrheiten, den Geschichten kann sie sich erzählend der Wirklichkeit versichern. „Ich bin der Meinung, dass eine Geschichte oft besser wirkt, wenn sie in der Ich-Form erzählt wird“, meint sie einmal.

Rotkäppchen und das tapfere Schneiderlein

Klaus steht in diesem Freundes-Trio ein ganz klein wenig außerhalb. Mit Klaus hat das Mädchen kurzfristig eine Liebesbeziehung. Aber Klaus wird von ihr niemals „Bruder“ genannt. „Ich denke schon, dass ich dich lieben hätte können“, sagt sie einmal zu ihrem „Bruder“. „Aber die Art, wie ich dich jetzt liebe, ist noch viel mehr wert.“ Sie sind ein Paar wie Rotkäppchen und das tapfere Schneiderlein. Eigentlich gehören sie nicht zusammen, aber sie kommen beide aus dem Märchenland, und alles, was der Ich-Erzähler in seiner Erinnerung, in seinen Empfindungen sucht, ist an dieses zaubrische Du gerichtet.

Der Tag des großen Erdbebens

„Wenn wir drei zusammen waren, war es, als wäre eine Glaskuppel über uns, die uns vor allem beschützt.“ Die Realität allerdings zertrümmert die Glaskuppel „mit großen Steinen“. In beinahe jeder dieser Erzählungen ist vom „Tag des großen Erdbebens“ die Rede. Unvermittelt taucht das bedrohliche Szenario noch in den stillsten, glücklichsten Momenten auf. Dann sehen wir Leser vor unseren Augen wieder die Wilder’sche Brücke, das Beschwören dessen, was in dieser Freundschaft entstand. „Das mit uns, das war für mich und für dich und auch für sie das Bedeutsamste“, sagt Klaus. „Sieh uns an. Schau, was aus uns geworden ist. Wer wir heute sind. Das ist allein ihr Verdienst.“

Einmal gehen sie zu dritt in den Mediamarkt, um eine Kamera zu kaufen. Testhalber macht Klaus ein Foto und erschrickt: „Als ob ich ein Bild ihrer Seele gemacht hätte“, sagt er. „Auf dem Display erkannten Klaus und ich eine Traurigkeit, die wir, wenn wir dich beobachteten, nicht sehen konnten.“ Das sind die Vorboten des Erdbebens. Denn die Traurigkeit lässt sich nicht weglügen, nicht wegträumen und nicht wegerzählen. Das Mädchen bekommt Antidepressiva, setzt sie eigenmächtig ab. Zwei Selbstmordversuche folgen. „Ich erkannte nicht, was dich so bedrückte. Erkenne es heute noch nicht. Du hast es selbst nie in Worte fassen können.“

Der geflügelte Denker

„Ohnedich“ ist kein Roman über eine Depression. Bastian Kresser ist ein Erzähler, kein Erklärer. „Ohnedich“ handelt vom Versuch zweier Freunde, ihre Freundin vor der großen Traurigkeit zu beschützen. Das gegenseitige Vertrauen ist so groß, dass das Mädchen jene Sätze ausgräbt, die seine Angst wohl am klarsten beschreiben, Sätze aus Franz Kafkas Tagebüchern: „Meine Zweifel stehen um jedes Wort im Kreis herum, ich sehe sie früher als das Wort, aber was denn? Ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich.“ Die Fähigkeit zu erzählen erlischt, die junge Frau fällt ins Bodenlose. Das ist für ihre Freunde der Tag des großen Erdbebens. Waren sie zu wenig aufmerksam, nicht genug für sie da? Im Rückblick hören sie die Freundin noch einmal sprechen: „Diese Traurigkeit schlummerte schon seit langer Zeit in mir, vielleicht sogar schon immer, und sie wartete nur darauf herauszukommen, mich zu überfallen. Das war alles nur eine Frage der Zeit.“ Vielleicht, so der Ich-Erzähler, waren sie einander auch viel zu nahe, um zu erkennen. Vielleicht konnte auch die Freundin diese Last nicht tragen: „Ohne dich habe ich manchmal das Gefühl, nicht zu wissen, wer ich selbst bin. Das hatte ich nie, als du noch da warst.“

Der Tag des „großen Erdbebens“ ist strahlend schön und entspannt. Klaus spielt Klavier, sein Freund zeichnet eine an Rodin erinnernde Denkerfigur. „Ich stellte mich erneut vor die Staffelei und fügte dem Denker ein Paar große Flügel hinzu. Dann sah ich dich an. Du hast gelächelt und leicht genickt.“

Bastian Kresser, Ohnedich, Reihe Zeitgenossen, gebunden mit Schutzumschlag, 264 Seiten, Limbus Verlag, Innsbruck 2013, 19,80 Euro, ISBN 978-3-902534-76-7