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Ingrid Bertel · 18. Okt 2011 · Literatur

Das Sonntagskind – Michael Köhlmeiers höchsteigene Sammlung von Märchen und Sagen

Wer möchte nicht ein sogenanntes „Sonntagskind“ – ein von Glück, Schönheit und Liebe übergossenes Geschöpf sein? Von solchen Sonntagskindern und den sie beneidenden Pechvögeln, von der riesigen Frau Hitt und dem klugen Josle Levi erzählt Michael Köhlmeier in seiner höchsteigenen Sammlung von Märchen und Sagen aus Österreich.

Was unterscheidet Märchen und Sagen von anderer Literatur? Ist es die Knappheit der Erzählung? Das zeitlos Unbestimmte? Die Seltsamkeit der Personen und Vorkommnisse? Der naive Stil? Kann sein. Jedenfalls wenn Michael Köhlmeier bekannte und völlig unbekannte Sagen und Märchen erzählt, dann fällt daran vor allem der erfrischend gegenwärtige Stil auf. Da geht es zum Beispiel um den Pakt zwischen Dr. Faust und dem Teufel – bei Michael Köhlmeier ein Sprachspiel: „Und der Dr. Faust beginnt, den Teufel an die Wand zu malen. Rot wie Feuer, feuerrot, ein entsetzlich schreckliches feuerrotes Gesicht hat der Teufel. Und als der Dr. Faust fertig ist mit Malen, sitzen alle davor und haben Angst.“

Handwerker und ihre Weisheit 

Und zwar berechtigte Angst, denn man soll den Teufel eben nicht an die Wand malen. Es geht nämlich in diesen Geschichten eher um handwerkliche Tugenden und kleinbürgerliche Untugenden als um Teufel, Feen und Fenggen. Da gibt es beispielsweise einen Sägenfeiler, der nach Niederösterreich kommt und zunächst sehr freundlich aufgenommen wird. „Aber als der Sägenfeiler sagte, er wolle bei ihnen bleiben, ob sie ihm ein Zimmer empfehlen könnten, lächelten sie scheinheilig …“ – und schickten ihn in ein Spukschloss.

Natürlich spielt die Liebe eine Hauptrolle in diesen Geschichten. Dabei sind die Verhältnisse meist stabil: ein lieber Mann mit einer lieben, lieben Frau und ganz, ganz lieben Kindern – oder eben ein abgrundtief böser Mann usw. Manchmal geht es aber auch zu wie im richtigen Leben. Da ist etwa ein Paar, das sich treu sein will und dafür auch alle erdenkliche Energie aufwendet, selbst ein magisch weißes Hemd muss als Wahrheitsrequisit dienen. Aber dann verliebt sich die Frau in einen jungen Türken. „Und ihr Gewissen hämmerte auf ihr Herz, als wär das Herz ein Amboss und das Gewissen der Hammer. Und in der Nacht diskutierte sie mit ihrem Gewissen.“ Das hat denn auch eine jesuitische Antwort parat: jede darf alles. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie heute noch mit befreitem Gewissen.

Konkrete Daten

Historische Gestalten wie Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim – „was für ein Name! So hieß er, der berühmte Paracelsus“ – tauchen ebenso auf wie Volkshelden, und der liebe Augustin ist nicht einmal der prominenteste. Wer wissen will, warum der Erzberg so heißt oder der „Stock im Eisen“-Platz beim Stephansdom, bekommt mehr als nur diese Auskunft, nämlich eine Geschichte, die viel weiter geht.

Und ausgesprochen unmärchenhaft liefert Michael Köhlmeier auch konkrete historische Daten: „Nachdem die Juden im Jahr 1676 von dem gehässigen Grafen Karl Friedrich aus Hohenems vertrieben worden waren, siedelten sie sich in Sulz an.“ Die dazugehörige Geschichte ist allerdings eine Trouvaille von seltener Schönheit!

Die kalte Pein

Armut ist ein Hauptthema in diesen Sagen und Märchen. Und: was die Armut aus Menschen macht. „Ich kann nur an mich denken und an meine Familie und meine Tiere. Damit wir einander wieder lieb haben können. Ich werde zum Mörder und zum Räuber. Gott, selber schuld bist du!“ Das macht diese Geschichtensammlung zu mehr als lustvollem Erzählen. Die feinen Einsichten in die Seele der Menschen und der Gesellschaften, sie treten pointiert hervor – in einer unprätentiösen, am alltäglichen Sprechen geschulten Sprache.  


Michael Köhlmeier, Das Sonntagskind. Märchen und Sagen aus Österreich, Deuticke Verlag, Wien 2011, 320 Seiten, € 20,50, ISBN 978-3-552-06156-9