Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Ingrid Bertel · 24. Feb 2011 · Literatur

Das Geisterschloss in den Pripjat-Sümpfen – Hans Platzgumers Roman „Der Elefantenfuß“

An die Tage nach dem 26. April 1986 hat jeder, der alt genug ist, seine eigenen Erinnerungen. Ist es der Minister, der vor laufenden Kameras in ein Radieschen beißt? Sind es besorgte Mütter, die in der Apotheke nach Kaliumjodid-Tabletten fragen? Sind es die Bilder der Evakuierung hunderttausender Menschen aus der „Todeszone“?

Denkmal des Todes

„Nicht nur in Schweden klickten die Geigerzähler so heftig, dass man an eine Havarie eines eigenen Atomkraftwerks dachte; auch in Italien oder Japan schlugen die Dosimeter aus. Neun Tage dauerte es, bis das brennende Graphit einigermaßen gelöscht werden konnte. Von Hubschraubern wurde Sand, Lehm, Bor, Dolomit und Blei abgeworfen, um das Feuer zu ersticken. Die meisten Piloten starben innerhalb kurzer Zeit“, schreibt Hans Platzgumer, der für seine Romane sehr sorgfältig zu recherchieren pflegt. „Bauern hatten rosa und blau leuchtende radioaktive Klumpen auf ihren Feldern entdeckt. Tennisballgroße Brocken und kleine weiße Blättchen. Feinen Staub, der ihr Land bedeckte, fast wie Schnee. Ein paar Tage lang konnte man das Gift sehen. Angreifen!“ Heute ist es längst unsichtbar, tut nicht weh, bis es viel zu spät ist. Heute hat der Tod sein Denkmal in Tschernobyl – hinter Stahlwänden und meterdickem Beton ist der Explosionsherd begraben. 190 Tonnen angereichertes Uran und eine Tonne Plutonium verschmolzen mit Graphit, Bitumen, Sand und den Resten der Brennstäbe zu einer Form, die die Wissenschaftler an den Fuß eines Elefanten erinnerten, während durch die meterbreiten Risse des Betonmantels weiterhin der Tod ausströmt.

Gottessucher in der Todeszone

Seltsame Gestalten bewegen sich durch den 280.000 Hektar großen Todeskreis um Tschernobyl – ein junges Paar, ein Mann, der unentwegt joggen geht, ein Lebensmittelhändler, ein Student und eine Gruppe Soldaten. Was suchen sie hier, in diesem stillen, totenstillen Land? Wenn sie einander zufällig über den Weg laufen, sind sie irritiert. Der Ort hat ihnen seine radikale, bis ins Mark vereisende Einsamkeit gegeben, eine Einsamkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt. Das Thema hat Platzgumer seit jeher fasziniert. Doch die Kälte von Franz Joseph Land aus dem Roman „Weiß“ ist direkt freundlich gegen das, was nach dem Durchbrennen des Reaktors Leben heißt.
Igor Kochanow betreibt hier eine Tankstelle und ein kleines Lebensmittelgeschäft. Zu verkaufen gibt es nicht viel, denn längst sind die Wachposten entlang des Maschendrahtzauns abgezogen; längst sind sogar die Plünderer verschwunden, die kontaminierte Autos und Möbel, Spielzeug und Geschirr aus den Gräben scharrten und über Weißrussland und die Ukraine verstreuten. Einst wurde er wie hunderttausend andere auch evakuiert, in die künstliche Stadt Slawutytsch – als ob nicht jeder von ihnen den schleichenden Tod mitgenommen hätte. Igor Kochanow ist zurückgekehrt, um in aller Stille den Sternen seine zynischen Fragen zu stellen. Denn wie anders als mit Zynismus ließe sich auf die Katastrophe reagieren?
Vielleicht mit ebenso vollkommener wie leistungsmotivierter Resignation. Darüber verfügt Alexander Kudrjagin, der Jogger. Seinen Schutz vor den Strahlen hat er sich selbst geschaffen: „Ich nehme Strahlen auf und gebe sie gleichermaßen wieder ab. Ich lasse sie ein- und wieder austreten. Ich habe mich geöffnet.“ Alexander Kudrjagin hat sich selbst mit einem Bohrer die Schädeldecke durchstoßen, ohne die „geleeartige Masse seiner Hirnrinde“ zu verletzen.
Diese Behandlung empfiehlt er auch der eleganten jungen Soraya, die er eines Tages auf der Straße trifft. Da raucht sie eine Zigarette und ist ansonsten vollkommen betäubt von Schmerzmitteln. Philippe hat sie hierher gebracht. Philippe, der ständig von Gott spricht und Soraya ohne Grund schlägt, der sie bis zur Bewusstlosigkeit betäubt und seiner Wege geht, immer mit dem gleichen Ziel. „Sie kann noch nicht wie ich aufbrechen, um Gottes Willen auszuführen … Ich kann nicht mehr länger auf sie warten.“

Neues Leben aus der Strahlung?

Der Student hingegen erwartet ein unerhörtes Biotop; die Soldaten – was sonst? - einen besinnungslosen Rausch. Igor schaut in die Sterne und Alexander läuft. Platzgumer thematisiert in alltäglichen Bildern eine Welt, in der nichts mehr alltäglich ist, in der es keine menschlichen Beziehungen geben kann, weil menschliche Beziehungen auf dem Vertrauen in die Zukunft basieren.
Die Erfahrung des Tschernobyl-GAUs haben wir praktisch alle gemacht. Hans Platzgumer aber denkt darüber nach, was diese Erfahrung bedeutet. Der Schrecken, der vom Geisterschloss ausgeht, lässt sich weder mit Gott noch mit Wodka, weder mit Sport noch mit Schweizer Schokolade bannen. Es ist ein Schrecken, dem wir ins Auge sehen, wenn wir „Der Elefantenfuß“ lesen.


Hans Platzgumer, Der Elefantenfuß, Limbus Verlag, Innsbruck 2011, 240 S., ISBN 978-3-902534-43-9, 19,80 Euro