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Peter Niedermair · 03. Mär 2022 · Literatur

„Bauen ist Weiterbauen“

2021 erschien im St. Galler Triest Verlag „Bauen ist Weiterbauen“ über den Basler Soziologen und Begründer der „Spaziergangswissenschaft“ Lucius Burckhardt, 1925-2003. Dieser hat die Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln, oft lakonisch und spöttisch, manchmal philosophisch und profund, aber immer differenziert betrachtet.

Architektur ist für Burckhardt Medium und nicht Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichzeitig gibt das Buch Impulse, um Burckhardts Wirken und Wirkung in der internationalen Architekturgeschichte neu zu bewerten. Burckhardt beschäftigte sich von 1962 bis 1972 mit Architektur und Städtebau als Redakteur der in Zürich erscheinenden Zeitschrift das „werk“. Er hat der Zeitschrift eine grundlegend neue Richtung gegeben und damit das Selbstverständnis einer ganzen Generation von Architekten geprägt. Das hier rezensierte Buch positioniert sein Lebenswerk und stellt dessen architektursoziologische Überlegungen ins Zentrum. Aufgezeigt wird die Aktualität von Burckhardts Denken und Wirken: Seine Forderung, Bauen stets als Weiterbauen zu verstehen, hat mit Blick auf das Ziel der Innenentwicklung und des schonenden Umgangs mit bestehenden Ressourcen eine große Dringlichkeit. Text und umfangreiches Bildmaterial verschaffen einen umfassenden Einblick in die damalige architektonische und städtebauliche Diskussion, die anhand einzelner, prägender Projekte vertieft wird. Das Buch enthält auch einige Glossen, für die Burckhardt bekannt und gefürchtet war.

Architektur und Gesellschaft

Burckhardt beschäftigte sich kritisch mit Architektur und Gesellschaft. Für ihn bestand zwischen beiden eine komplexe Beziehung; gesellschaftliche Verhältnisse und gebaute Umwelt würden sich gegenseitig bedingen, war seine Grundüberzeugung. D.h. im Umkehrschluss, dass Architekt:innen ein umfassendes Wissen über die Gesellschaft brauchen, in der und für die sie arbeiten. Nur so können sie ein Bewusstsein für Planungsprozesse entwickeln und städtebaulich taugliche Lösungen finden. Dieses Wissen lässt sich, wie es an zahlreichen architektonischen Entwicklungen in Vorarlberg sichtbar manifest wird (vgl. dazu auch den Beitrag in dieser KULTUR, S. 8) wohl nur durch entsprechende Neugier, Offenheit, Wissensdurst, vielseitiges Interesse und die stetige Auseinandersetzung mit allen möglichen soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Themen erwerben. Somit wird „Bauen ist Weiterbauen“ auch zum Appell, über den Tellerrand zu schauen. Unter Burckhardt wandelte sich das „werk“ von einer Architekturzeitschrift mit Schwergewicht auf der Publikation realisierter Bauten zu einem Organ der mit Architektur zusammenhängenden Probleme und zu einer Diskussionsplattform der Voraussetzungen und Folgen von Architektur. Dabei fanden viele Gesichtspunkte Aufnahme: die Architekturtheorie, die Soziologie, die Semiotik, die Denkmalpflege und die Probleme der Planung. Vor Burckhardts Zeit als Redakteur war es die Regel, dass Architekten ihre Bauten selbst erläutern. Nach seiner Übernahme war dies jedoch immer weniger der Fall. Die Redaktion begann nun selbst die dargestellten Bauten zu beschreiben. Oder sie druckte Gespräche und Diskurse ab, in denen über architektonische und städtebauliche Projekte diskutiert wurde. Burckhardts soziologische Auseinandersetzung mit Architektur zielt nicht nur darauf, den Begriff der Architektur umfassender zu verstehen, sondern auch auf die Frage, wer denn überhaupt berechtigt ist, über Architektur zu sprechen.

„Die Kinder fressen ihre Revolution“

„Lucius Burckhardt und die Schweizer Architekturszene – das war eine komplizierte Beziehung, in der es immer wieder knirschte: Er, der Nicht-Architekt und Soziologe, war zwar als Lehrer an der ETH Zürich, Chefredakteur der Zeitschrift werk, brillanter Schreiber und intelligenter Theoretiker ein wichtiger Teil der Szene, doch zugleich für viele auch eine Provokation.“[1] Burckhardt betonte den sozialen Charakter räumlicher Zusammenhänge: „Die Umwelt der Menschen ist nicht das, was man sieht, die Umwelt ist sozial.“ Er beschreibt die Umwelt als nicht alleine das Konkrete, sondern als eine durch ihre sozialen Komponenten mit einem unsichtbaren Charakter ausgestattete. „Umwelt“, so Burckhardt, „soll in ihrem politischen Charakter als Zeichen der gesellschaftlichen Beziehung der Menschen untereinander auf der sozialen und politischen Ebene thematisiert werden.“
Mit einem Gedankenspaziergang durch ältere Bücher wie „Design = unsichtbar“ und „Die Kinder fressen ihre Revolution“ sowie durch dieses neue Buch kann man sich die Arbeiten Burckhardts, der die gesellschaftliche Bedeutung und Verantwortung der Planer:innen einforderte, erwandern und erkennen, dass Planung kein gesellschaftspolitisches Niemandsland ist, und dass das „Niemandsland [...] ein Produkt der Planung ist“. Burckhardts Feststellung „Design ist unsichtbar“, die sich nicht zuletzt von Marshall McLuhans „Environments are invisible“ herleitet, zielt auf Vernetzungen und Konditionierungen jenseits der Kulissen formaler Anschaulichkeit.

Wer zu Fuß unterwegs ist, sieht mehr

In den 80er Jahren begründete der Urbanist Burckhardt an der Gesamthochschule Kassel die Promenadologie, die Spaziergangswissenschaft. Damit ist eine ursprüngliche Form der Welterkundung gemeint, unter die sich Burckhardts gesamte Planungs- und Gestaltungswissenschaft subsumieren lässt. Wer sich auf die Spaziergangswissenschaft einlässt, der nähert sich der umgebenden Welt langsamer, selbst beobachtend, kritisch flanierend an. Ziel der Promenadologie ist das konzentrierte und bewusste Wahrnehmen unserer Umwelt und dabei das Weiterführen des bloßen Sehens zum Erkennen. So geht es der Promenadologie darum, die Umgebung wieder in die Köpfe der Menschen zurückzuholen. Der Spaziergang dient sowohl als „Instrument“ zur Erforschung unserer alltäglichen Lebensumwelt, als auch zur Vermittlung von Inhalten und Wissen. Burckhardt bezieht sich auch auf die 1917 erschienene klassische Erzählung von Robert Walser „Der Spaziergang“, das hohe Lied des Müßiggangs: „Die Herrlichkeit eines kostenlosen Spaziergangs am heiter hellen Werktag.“ Nur Nichtmüßiggänger halten den Spaziergang für eine unnütze Beschäftigung.

[1] swiss-architects.com

ZHAW, Institut Urban Landscape (Hrsg.), Philippe Koch, Andreas Jud: Bauen ist Weiterbauen. Lucius Burckhardts Auseinandersetzung mit Architektur.
Triest Verlag, St. Gallen 2021, 168 Seiten, fadengeheftete Broschur
ISBN 978-3-03863-064-7, € 40