„Memory“ - neu in den Vorarlberger Kinos (Foto: Teorema)
Gunnar Landsgesell · 18. Aug 2022 · Film

Der Gesang der Flusskrebse

Ein Mord in den 60er Jahren im Bayou im Süden der USA. Verdächtigt wird eine junge Frau, die alle „Marsh Girl" nennen. Die Verfilmung eines New-York-Times-Bestellers hat mit dem Weichzeichner viele Konturen verwischt. Aber die großen Linien des Romans über die Erfahrungen einer Außenseiterin sind dennoch deutlich erkennbar.

Ein Sumpf, ein gewalttätiger Vater, eine Kleinstadtgesellschaft, die einen schnell als Außenseiter abstempelt. Und ein Mord. „Where the Crawdads Sing“, zu deutsch „Der Gesang der Flusskrebse“, ist starker Tobak. Insbesondere, als in dieser grimmigen Gemengelage ein kleines Mädchen im Mittelpunkt steht. Während die gesamte Familie sich vor den Exzessen des Vaters davonmacht, bleibt die sechsjährige Catherine „Kya“ Clark mit ihm als Einzige in der Holzhütte zurück. Bis auch er geht und das Mädchen im Sumpf zum „Marsh Girl“ mutiert – so nennen Kya die Leute aus der Stadt. Jahre später findet man einen jungen Mann tot im Bayou, es handelt sich um den Freund der mittlerweile erwachsenen Kya (im Film dargestellt von Daisy Edgar-Jones). Sie gerät unter Mordverdacht. In Rückblenden wird aus dem Gerichtssaal heraus das Leben einer Außenseiterin aufgerollt.

Spuren einer präzisen sozialen Architektur

„Der Gesang der Flusskrebse“ geht auf einen New-York-Times-Bestseller zurück. Die Zoologin und Naturschützerin Delia Owens führt in ihrem millionenfach verkauften Roman gleich mehrere Linien zusammen. Die Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens in North Carolina in den 1950er und 1960er Jahren im erzkonservativen Süden der USA. Einen Mordfall und das daraus entstehende Sittenbild einer Gesellschaft. Vor allem aber das Psychogramm einer jungen Frau, die trotz aller Widrigkeiten zu einer intakten Persönlichkeit heranreift, die es sogar bis zur Buchautorin schafft. Ihre Verbundenheit mit der Natur und ihre Zeichnungen, die sie von Tieren und Pflanzen anfertigt, interessieren einen Buchverlag im Norden, der sie als Autorin verpflichtet. Bei der Verfilmung von Olivia Newman fällt schon nach wenigen Bildern auf, dass diese Geschichte nicht ohne einen tröstlichen Dauerton auf die Leinwand finden sollte. Wie mit einem Weichzeichner, der alle harten Konturen verschwimmen lässt, findet man sich hier mal in lichtdurchfluteten pittoresken Sümpfen (gedreht wurde in Louisiana), mal im Gerichtssaal, in dem Kya David Strathairn als Anwalt wie ein väterlicher Freund zur Seite steht, und mal in einer Holzhütte wieder, die so idyllisch wäre, würde es nicht die Missgunst der Menschen da draußen geben. Newmans Wahl ist es, den Bildern jede Härte zu nehmen. Vielleicht aus Sorge einer falschen Rezeption im Sinn von White Trash, vielleicht, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. (Als Produzentin hat Reese Witherspoon fungiert.) Trotz allem lassen sich im Film die hochinteressanten Linien, die dieser Roman zusammenführt, klar erkennen. „You can’t trust anybody“, sagt der Vater einmal zu seiner Tochter. Ein tiefes Misstrauen gegenüber Menschen, das sich aus der kaputten Familie, den Gewalterfahrungen und dem Alleingelassenwerden in die Psyche des Mädchens eingraviert, findet sich wie ein zynischer Widerhall später in der Beziehung zu zwei Burschen, die unbewusst auf verschiedene Weise die Erfahrungen Kyas bestätigen. Gerade die Beschreibung sozialer Beziehungen unter diesen Vorzeichen wäre wohl das Kernelement des Films, umso bedauerlicher, dass sich die Inszenierung dramaturgisch eher an den spiegelnden Oberflächen des Bayous orientiert. Denn das spannende an dem Roman und eigentlich auch an dem Film ist nicht der Crime Plot, was „Where the Crawdads Sing“ bereits von vielen Southern Gothic Projekten unterscheidet. Sondern die Frage, was Outsider eigentlich bedeutet. Von der höchst präzise entworfenen sozialen Architektur des Romans ist im Film trotz allem immer noch genug vorhanden, um sich dieser Frage im Kino zu stellen.