Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Gunnar Landsgesell · 12. Aug 2020 · Film

The Vigil - Die Totenwache

Ein junger Mann, der kürzlich seine chassidische Gemeinde in New York verlassen hat, sagt zu, bei einem eben verstorbenen Gemeindemitglied die rituelle Totenwache zu halten. Um Punkt Mitternacht legen die Dämonen los. Statt Einblicken in die jüdische Mystik lotet dieses Horror-Kammerspiel aber mehr die psychischen Belastungen des Abtrünnigen aus. Coming-of-Age mal anders.

Ein Horrorfilm im orthodoxen jüdischen Milieu in New York angesiedelt? Das klingt vielversprechend, weil abseits der ausgetretenen Pfade. Der Film steigt mit einem jungen Mann namens Yakov (Dave Davis) ein, der sich offenbar jüngst von seiner religiösen Gemeinde getrennt hat. Nun verbringt er in einer launigen Runde mit einer Gruppe anderer Jugendlicher den Abend und nimmt sich im Kontakt mit einer jungen Frau recht unsicher aus. Sie drängt ihm dennoch vor dem Gehen ihre Telefonnummer auf. Unten auf der Straße wartet indes eine unheimliche Gestalt, die sich aber als Bekannter aus der orthodoxen Gruppe herausstellt. Er will Yakov überreden, wieder zurückzukommen. Er lockt ihn: Als Schomer, als ritueller Totenwächter für eine Nacht, würde er vielleicht Anschluss finden. Yakov willigt ein, das Problem ist aber, dass der Tote sich zu Lebzeiten mit Dämonen beschäftigt hat, die einen befallen, um sich an den Qualen zu ergötzen.

Letztlich: universeller Horror 

„The Vigil“ ist ein Film wie viele Horrorfilme – und auch wieder nicht. Die Geschichte ist archetypisch ersonnen. Die Hauptfigur, die in diesem Gruselkammerspiel auch die meiste Zeit für sich bleibt und mit sich kämpft, obwohl es im Halbdunkel rundherum recht lebhaft zugeht, schleppt ein Problem aus der Vergangenheit mit sich herum: Eine Art post-traumatische Störung nach dem Tod seines kleinen Bruders, an dem er sich schuldig fühlt, treibt Yakov um. Die Dämonen des Verstorbenen kommen da gerade recht, um auch die Sinne des Zusehers zu verwirren. Die inneren oder äußeren Fratzen, die einem hier begegnen, wer will sie auseinanderhalten? So begleitet man den jungen Mann bei seinen Qualen, ohne dabei viel über die chassidische Gemeinde zu erfahren. Die Psychofolter des eigenen Geistes ist eben über kulturelle Grenzen hinweg universell. Zugleich spielt „The Vigil“ aber geschickt mit Themen wie jenen der jüdischen Geschichte, ohne dabei explizit zu werden. Die Idee ist letztlich stärker als deren Realisierung. Low budget, ein kreischender Score, Jump Scares und schemenhafte Bilder bestimmen den Set in diesem unheimlichen Wohnzimmer, in dem auch die Witwe des Verstorbenen nichts zur Beruhigung beitragen kann. Das Paar hatte die Shoa überlebt, aber in ihre Erinnerung hat sich zweifellos der Horror gefressen. Als wäre die junge Generation nun an der Reihe, die Prüfung neuerlich zu bestehen. Doch Yakov hat vor allem mit seinen eigenen Ängsten zu tun, kein Wunder, dass er in einem seiner Wachträume auf eine dämonische Figur stößt, deren schwammiges Gesicht seinem eigenen gleicht. Etwas schwammig fühlt sich auch die Inszenierung des Newcomer-Regisseurs Keith Thomas an. Eine pointiertere Dramaturgie und eine entschiedenere Begegnung mit dem Bösen hätte gut getan. Dennoch erinnert „The Vigil“ an einige recht klug gemachte Horrorfilme wie „Possession“, in dem ein Dibbuk, ein jüdischer Dämon, eine Mutter mit Kind fast in den Wahnsinn treibt. Hier wie dort führt die Reise zu sich selbst, und wer an sich glaubt, vermiest auch dem schlimmsten Teufel seinen Spaß. Ein Happy End ist somit nicht ausgeschlossen.