Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Walter Gasperi · 19. Mär 2009 · Film

Slumdog Millionär

Wie kann ein aus den Slums stammender Teekellner eines Call-Centers in der indischen Version von „Wer wird Millionär?“ bis zur 20-Millionen-Rupien-Frage vordringen? - In seinem mit acht Oscars ausgezeichneten, mitreißenden und kraftvollen, aber auch sehr konstruierten Film liefert Danny Boyle in Rückblenden, in denen die Lebensgeschichte des jungen Mannes aufgerollt wird, Schritt für Schritt – oder besser: Frage für Frage – die Antwort.

Auf eine Exposition verzichtet der Brite Danny Boyle. Er wirft vielmehr den Zuschauer direkt ins Geschehen hinein. Schon in der ersten Einstellung steht der junge Teekellner eines Call-Centers vor der 20-Millionen-Rupien-Frage. Wie im Quiz stellt der Film eine Frage mit vier Antwortmöglichkeiten an den Zuschauer, involviert ihn ins Spiel, indem er ihn überlegen lässt, ob der ungebildete junge Mann gemogelt hat, Glück hatte, die Antworten wusste oder es geschrieben steht und es somit Schicksal ist.

Kaleidoskop indischer Probleme

Da die entscheidende Frage erst in der nächsten Sendung gestellt werden kann, wird Jamal Malik, den der Moderator der Show für einen Betrüger hält, in der Zwischenzeit von der Polizei beinhart ins Verhör genommen, auch mit Elektroschock gefoltert, um herauszubekommen, wie er so weit kommen konnte. – Endlich gibt Jamal preis, dass er die Antworten gewusst habe und erläutert Schritt für Schritt zu jeder Frage, wie ihn seine persönliche Lebensgeschichte die Antwort dazu lehrte: Vom Namen eines Bollywood-Schauspielers über das Attribut des Gottes Rama bis zum Erfinder des Revolvers oder dem Präsidenten-Konterfei auf dem 100-Dollar-Schein spannt sich dabei der Bogen.

So erzählt Danny Boyle in ungemein kraftvoller, von der Videoclip-Ästhetik geprägter Bildsprache, dynamisiert teils auch durch Zeitraffer, gekippte Einstellungen und treibende Musik von einer Kindheit und Jugend in den Slums, von zwei ungleichen Brüdern und der frühen und durch nichts zu erschütternden Liebe Jamals zu der etwas älteren Latika. Einblick wird so geboten - oder ist das "Armuts-Pornographie", wie ein Vorwurf gegen den Oscar-Gewinner lautet - in die religiösen Konflikte zwischen Hindus und Moslems, das triste Leben auf den Müllhalden Mumbais, die grausamen Machenschaften von Kinderhändlern, die Kinder zum Betteln zwingen, die drohende Gefahr des Abgleitens in die Kriminalität, aber auch in den Wandel der Slums, ihre Beseitigung oder Verdrängung zugunsten von Geschäftsgebäuden.

Furioser Genre-Mix

Schon im Titel und dann durchgängig im Film prallen so ständig Gegensätze aufeinander: das Versprechen von Millionen auf der einen Seite und die Slums auf der anderen, das sterile und saubere Studio hier und der Kot und Müll dort, das Verbrechen auf den Straßen und die Brutalität der Polizeimaßnahmen.

Schillernd und vielfältig ist „Slumdog Millionär“, ein furioser Genre-Mix aus Coming-of-Age-Geschichte, Sozialdrama, Gangster- und Liebesgeschichte, Satire auf die Quiz-Shows, bei denen es mehr um Glück als wirkliches umfassendes Wissen geht und Kritik an der immer mehr auseinanderklaffenden indischen Gesellschaft mit Superreichen auf der einen Seite und unvorstellbar Armen auf der anderen. Als Patchwork und zusammengestückelt kann man zweifellos bezeichnen, wie hier jede Millionen-Quiz-Frage beziehungsweise die Antwort darauf zu einem Kapitel aus der Lebensgeschichte von Jamal führt. Dennoch muss man uneingeschränkt eingestehen, dass sich Boyle mit diesem Film wieder einmal als einfallsreicher und origineller Regisseur erweist, der sich, seinen Stil und seine Themen seit „Trainspotting“ über den missglückten „The Beach“, den Horrorfilm „28 Days Later“ und den Science-Fiction-Film „Sunshine“ mit jedem Film neu erfindet.

Lebensfreude und unbändiger Lebenswille

Im schier atemlosen Erzähltempo bleibt in „Slumdog Millionär“, der nicht nur ästhetisch, sondern teils auch inhaltlich wie eine indische Variante zu Fernando Meirelles „City of God“ wirkt, freilich keine Zeit die Problemfelder auszuleuchten. Vielmehr legt Boyle ein mitreißendes Drama vor, das trotz der tristen Lebensverhältnisse nie in Depression verfällt, sondern mit seiner energetischen und vitalen Erzählweise, bei der die Digitalkamera von Anthony Dod Mantle immer wieder in Slums eintaucht oder im Raum öffnenden Rückwärtszoom Überblick über das Ausmaß des Elends vermittelt, und seinen kräftigen Farben immer Lebensfreude und unbändigen Lebenswillen ausstrahlt. Wesentlich trägt dazu auch die Besetzung der Hauptrollen mit unverbrauchten jungen indischen Schauspielern und die des nach außen witzigen und netten, im Grunde aber fiesen und hinterhältigen Quizmasters mit dem lustvoll agierenden Bollywoodstar Anil Kapoor bei.

Kaum einmal ein Zweifel lässt Doyle daran, dass in diesem Märchen, das auch an Dickens “Oliver Twist“ erinnert, – die Dinge stehen ja geschrieben, sind vom Schicksal bestimmt – alles gut enden wird und dennoch gelingt es ihm, durchgängig die Spannung hoch zu halten. Dass in der Realität einem Slumjungen wohl aber kaum  so ein Aufstieg vom Teejungen zum Millionär beschieden sein wird, ist freilich auch Boyle klar und so wird das Happy-End in einem klugen letzten inszenatorischen Schachzug ironisch gebrochen, indem es in eine märchenhafte Bollywood-Szene übergeht und so der Realität enthoben wird.

 

Läuft im Cineplexx Hohenems

 

Weitere Neustarts:

Milk: Gus Van Sants Biopic über den schwulen San Franciscoer Stadtrat Harvey Milk, der nur ein Jahr nach seiner Wahl 1978 erschossen wurde. - Famos der mit dem Oscar ausgezeichnete Sean Penn in der Hauptrolle.

Männersache: Deutsche Komödie von Mario Barth

RocknRolla: Action-Komödie von Guy Ritchie

Despereaux - Der kleine Mäuseheld: Trickfilm über einen Mäuserich - Angeblich lohnend, aber so anspruchsvoll, dass er erst für Kinder ab 10 bis 12 geeignet sein soll.

Die drei??? - Das verfluchte Schloss: Jugendkrimi um drei Hobbydetektive