Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Gunnar Landsgesell · 24. Sep 2021 · Film

Schachnovelle

Stefan Zweigs "Schachnovelle" als labyrinthischer Psychotrip: Regisseur Philipp Stölzl verschiebt die Erzählung des Mannes, der sich von der "Schachvergiftung" seiner Gestapo-Isolationshaft nicht mehr erholt, in eine mentale Tour de Force, in der man auch als Zuseher zu rätseln hat, welchen der Bildern wahrnehmungsmäßig überhaupt zu trauen ist.

Stefan Zweigs schmale „Schachnovelle“ erzählt von einem persönlichen Trauma und dem Umsturz einer ganzen Zivilisation. Für Zweig, der vor der nationalsozialistischen Machtergreifung aus Wien ins Exil nach Brasilien geflüchtet war, ist es das letzte Buch, das er 1942 schreibt. Kurz darauf nimmt er sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben. (Maria Schrader bezog sich darauf in ihrer wundersamen Verfilmung „Vor der Morgenröte“.) Zweigs „Schachnovelle“ erzählt von der gewaltsamen Machtübernahme der Nazis in Österreich und einem rätselhaften Dr. B., der sich in der Isolationshaft der Gestapo vor dem Wahnsinn zu retten versucht. Die einzige geheime Lektüre, die er hat, ist ein Schachbuch. B. eignet sich sämtliche Meisterpartien an und spielt sie mit der Besessenheit eines Verlorenen nach. Der Preis für diesen letzten Rückzug ist eine zweigeteilte Persönlichkeit, Schwarz und Weiß, die sich nach seiner Entlassung tief in die Psyche des  traumatisierten Menschen frisst. An diesem Punkt setzt Philipp Stölzls Film an: Die Frage, ob nach Erlebnissen wie diesen „Freiheit“ überhaupt möglich ist, wird durch diese Verfilmung klar beantwortet. Nicht zufällig entgegnet der Protagonist, bei Stölzl heißt er Dr. Josef Bartok, dem Gestapo-Mann Böhm (Albrecht Schuch), der ihm die Freiheit verspricht, sobald er die Codes für die Bankkonten verrät: „Frei – was heißt das?“

Mentales und visuelles Labyrinth

Stölzls „Schachnovelle“, die als etwas theatralisch inszeniertes Historiendrama beginnt, steigert sich zunehmend in einen labyrinthischen Psychotrip, der durch seine elliptische Erzählweise, eine Verschiebung der Zeitebenen und auf Horrorästhetik rekurrierende Bilder von Gequälten aus der Gestapohaft die Orientierung verschwimmen lässt. Damit setzen Stölzl und sein lettischer Drehbuchautor Eldor Grigorian auf eine visuell und dramaturgisch recht populäre Erzählform, die, geschult an Horror- und Mysteryfilmen und –serien auf das Okkulte der Wahrnehmungsbilder setzt, denen man nicht mehr trauen kann. Bei Stölzl, dessen Musikvideo-Karriere mit den deutschen Brachialrockern Rammstein Fahrt aufnahm, wird selbst der stählerne Ozeankreuzer zu einem wankenden Irrenhaus. "Schachnovelle" hat wie die literarische Vorlage für das Spiel an sich wenig Interesse. Wie ein McGuffin bei Hitchcock treibt es das Geschehen voran, erweist sich in Gefangenschaft als verhängnisvoller Rettungsanker und wird später zum Kulminationspunkt einer tragischen Biographie. Stölzl liebt es, aus dem Geisteszustand seines unglücklichen Helden Spannung zu generieren, freilich um den Preis, dass sich die Dramaturgie ganz auf eine mentale Irrfahrt eines modernen Odysseus (Homer wird auch im Film zitiert) verengt. Es zeugt von postmodernem Witz, dass auch der Film selbst mit selbstreferenziellen Bezügen arbeitet. In Hinblick auf die „Sonderbehandlung“, wie die Gestapo die Isolationshaft von Bartok zynisch nennt, heißt es, diese lasse „Zeit und Raum verschwinden“. Das gilt auch schon für das Wien dieser Jahre, das seltsam verfremdet wirkt. Überhaupt bildet sich der Realismus des Erzählers Zweig im Film nicht ab.
Bemerkenswert ist dabei aber, dass zentrale Themen Zweigs nicht verloren gehen. Dass im Nationalsozialismus Bürgern dank der Rassenlehre mit einem Handschnippen die Sicherheiten, die Rechte und die Würde genommen werden konnten, setzen Stölzl und Grigorian sehr zentral als Thema ihrer Erzählung. Schon zu Beginn der Erzählung beobachtet Bartok jüdische Menschen, die gezwungen werden, auf Knien Gehsteige zu reinigen; diese Linie der Entwürdigung setzt sich bis zu angedeuteten Folterszenen in der Haft fort. Der dramatischen Verdichtung von Bildern, wie wir sie in aktuellen Erzählformaten erleben, ist wohl auch eine – durchaus wirksame – Redundanz bestimmter Bilder geschuldet. Wenn Masucci als Dr. Bartok vor den nahenden Nazis noch Akten im Kaminfeuer verbrennt, hört man dazu die Rede des austrofaschistischen Bundeskanzlers Schuschnigg, der das Ende Österreichs erklärt. Später in der Bar des Schiffes ist mehrfach die Uhr zu sehen, die rückwärts läuft. Sie leitet die Rückblenden in die Vergangenheit ein, wobei die Zeitebenen schließlich ohnehin verschmelzen.
Eine buchgetreue, klassische Verfilmung sollte also nicht erwartet werden. Zugleich entspringt „Schachnovelle“ aber durchaus dem Ansatz, von Geistern zu erzählen, die man nicht mehr los wird. Für den Film (und wohl auch für Zweig) gilt das besonders, sie scheinen irgendwann selbst die Regie übernommen zu haben. Mit dem deutschen Schauspieler Oliver Masucci hat diese Tour de Force jedenfalls einen Darsteller gefunden, der diese große Last bürden kann. Vom selbstbewussten Großbürger zum psychischen Wrack braucht er nur 100 Minuten. Auch von Birgit Minichmayr würde man gerne mehr sehen, als Ehefrau Bartoks hat sie einen unwahrscheinlichen Grenzgang zu bewältigen. Ausschließlich durch die Erinnerung bzw. durch die Nebel des Dr. Bartok wahrzunehmen, findet sie eine intensive Präsenz zwischen menschlicher Wärme und dem Trugbild einer sehnsüchtigen Projektion.