Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Walter Gasperi · 10. Mai 2011 · Film

Poll

Großes Kino gelang Chris Kraus mit seinem dritten Spielfilm. Vor dem Hintergrund des nahenden Ersten Weltkriegs erzählt der deutsche Regisseur nicht nur von den Spannungen innerhalb einer deutsch-baltischen Familie, die in einem prachtvollen Herrenhaus an der Ostseeküste lebt, sondern auch von den Gegensätzen zwischen Deutschen, Russen und Balten. – Prächtige Bilder, eine hervorragende Besetzung und die sorgfältige Verknüpfung mehrerer Themen machen „Poll“ zu einem Kinoerlebnis, wie man es im deutschen Film leider nur selten findet.

14 Jahre lang hat Chris Kraus („Vier Minuten“) für dieses Projekt gekämpft, in dem er sehr frei von seiner Großtante, der Schriftstellerin Oda Schäfer, erzählt. Nur durch Zufall ist er auf die 1988 verstorbene Verwandte gestoßen, in der weitgehend nationalsozialistischen Familie hat man sie totgeschwiegen, galt sie als Linksliberale doch als Schwarzes Schaf. Den Fehler das ganze Leben Odas anekdotenhaft nacherzählen zu wollen, begeht Kraus dabei nicht, sondern er beschränkt sich auf den Sommer 1914.

Deutsche im Baltikum

Während Oda von Siering (Paula Beer) im rückblickenden Voice-over darüber sinniert, dass nichts im Leben bleiben wird, rauscht ein Dampfzug durch die weiten Ebenen des Baltikums. - Ein Versprechen ist diese Eröffnung mit einer Totale, die eine Weite atmet wie in einem amerikanischen Western. Und Kraus taucht in eine Region, mit der sich im deutschen Film ansonsten nur der Dokumentarfilmer Volker Koepp beschäftigt.
Nach dem Tod ihrer Mutter, deren Sarg zu Odas Gepäck gehört, übersiedelt  das 14-jährige Mädchen von Berlin an die Ostseeküste zu ihrem Vater (Edgar Selge), der hier in einem Herrenhaus an der Küste lebt. Im majestätischen Flug gleitet die Kamera über den Küstenstreifen, an dem der das auf Stelzen im Palladio-Stil ins Meer gebaute Haus heraussticht. Wie in der ganzen Region hat auch auf dem Landgut Poll der deutsch-baltische Adelige das Sagen, untersteht aber doch dem russischen Zaren. Dienen muss dagegen die einheimische Bevölkerung. Deren Widerstand wird – wie sogleich eine Szene zeigt – von russischen Soldaten, die auf dem Gut stationiert sind, mit brutaler Gewalt gebrochen.

Das Ende einer Epoche

Gleichzeitig macht aber das Voice-over Odas auch schon klar, dass sich bald ein Abgrund auftun wird, dass diese alte Welt bald vom Ersten Weltkrieg hinweggefegt werden wird. Eine Stimmung von Endzeit und nahendem Untergang durchweht so die in gedämpfte Töne, in viel Grau und Blau getauchten Bilder von Kamerafrau Daniela Knapp. Im Hintergrund bleiben in „Poll“, der in gewissen Sinne ein Parallelfilm zu Michael Hanekes „Das weiße Band“ ist, aber die weltpolitischen Ereignisse. Nur kurz erwähnt wird einmal das Attentat von Sarajewo, erst gegen Ende kommt die Nachricht vom Kriegsausbruch, die bei den russischen Soldaten Begeisterung auflöst.

Selbstfindung eines Teenagers

Im Vordergrund erzählt Kraus am Beispiel Odas, ihres Vaters Ebbo und des Anarchisten Schnaps (Tambet Tuisk) vom Aufeinanderprallen verschiedener Weltanschauungen und der Kraft der Liebe. Während für den Vater alles determiniert ist und er glaubt durch die Sektion von Gehirnen Menschen ergründen und das Böse festmachen zu können, propagiert der verletzte Anarchist, den Oda im Dachboden des väterlichen Laboratoriums versteckt und schützt, Freiheit und Veränderung. In dieser Hirnforschung des Vaters, der ohne ein Gefühl zu zeigen Schädeldecken aufschneidet, werden freilich schon die Wurzeln des nationalsozialistischen Rassenwahns sichtbar.
Wenn es je eine emotionale Beziehung zwischen Oda und ihrem Vater gab, ist diese längst abgestorben, dennoch heuchelt sie Interesse an seiner Tätigkeit, aber nur um an Medikamente und Informationen zur Behandlung des versteckten Anarchisten zu kommen. In diesem Kontakt, der sich zur zarten Liebesgeschichte entwickelt, reift Oda aber auch vom unsicheren Mädchen zur jungen Frau.

Souverän und leidenschaftlich erzählt

Wie Kraus die Zeit in Lese- und Vorspielabenden im Herrenhaus oder Picknicks am Meer lebendig werden lässt, Thrillerspannung entwickelt, wenn der Anarchist entdeckt zu werden droht und im Kern doch vor allem von der Selbstfindung Odas erzählt, macht „Poll“ zu einem großen Film. Souverän wechselt er zwischen großartigen Totalen, in denen er immer wieder das Herrenhaus zum heimlichen Star des Films macht und kammerspielartigen, sehr intimen Szenen auf dem Dachboden und schweißt die Figuren förmlich zusammen, indem Daniela Knapps Kamera sie immer wieder in eleganten Bewegungen umkreist.
Mag sich die Handlung gegen Ende hin auch etwas ziehen, so spürt man doch, dass hier einer mit Leidenschaft erzählt, dass sorgfältig recherchiert und alles bis ins Detail überlegt gestaltet wurde. Da passen Kostüme und Kulissen, Atmosphäre lässt auch der baltische Dialekt aufkommen, der aber mit der Ankunft Odas wohl der besseren Verständlichkeit halber zurückgenommen wird.
Hervorragend ist auch die Besetzung, bei der sich keine Schwachstellen feststellen lassen. Da überzeugt Edgar Selge ebenso als gefühlskalter und autoritärer Vater wie der Este Tambet Tuisk als Anarchist Schnaps, herausragend ist freilich die Leistung der Newcomerin Paula Beer als Oda.

Nicht historisch exakt, aber in sich stimmig

Dass Kraus sich viele Freiheiten genommen hat, er das Gut Poll vom Landesinneren ans fotogenere Meer verlegt hat und auch die Liebesgeschichte mit dem Anarchisten eine Erfindung ist, spielt keine Rolle, denn nicht um faktische Richtigkeit geht es hier, sondern um die Stimmigkeit der Figuren und der Zeit. Auf diesen Grundlagen entwickelt sich eine Geschichte, die mit ihren grandiosen Bildern ebenso wie mit ihrer emotionalen Kraft und inhaltlichen Vielschichtigkeit packt und lange über das Filmende hinaus haften bleibt. Gerne sieht man da über kleine Schwächen wie den überflüssigen Besuch eines Wiener Kollegen des Vaters, der wohl nur aufgrund des koproduzierenden ORF in den Film gerutscht ist, oder über die ebenso überflüssigen Schlussszenen mit der sich erinnernden alten Oda hinweg.