Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Gunnar Landsgesell · 28. Mai 2021 · Film

Nomadland

Der Oscar für den besten Film und die beste Regie für einen Film, der auf eine Mischung aus dürrem Realismus und zarte Poesie setzt, ist überraschend. "Nomadland" ist eine große, kühne Reflexion über unsere Zeit.

Die vielzitierte Freiheit, der Topos vom ungebundenen Leben, ist eine zweischneidige Sache. "Sie können hier nicht im Auto übernachten", wird Fern einmal des nächtens von einem Polizisten von einem Parkplatz vertrieben. Also zieht sie weiter. Die Figur von Frances McDormand ist die einer modernen Nomadin, könnte man romantisch formulieren. Oder die einer pauperisierten Wanderarbeiterin, die wie tausende Amerikaner mit ihren Wohnmobilen durch die Gegend ziehen, auf der Suche nach Arbeit. Im Film lernt man Fern, eine Frau mit ausgezehrtem Gesicht und eigenständigem Kopf, in einer riesigen Verpackungshalle von Amazon kennen. Das ist kein Zufall, denn die Stationen, die folgen, eine Großküche oder die Baustelle einer Kiesgrube, stehen mittlerweile weniger deutlich für die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse wie der Milliardenkonzern. So folgt "Nomadland" also seiner Protagonistin durch oft weite, leergeräumte Ebenen, durch steinige Landschaften oder an die Ränder von Siedlungen. Die Gemeinschaften, auf die die Protagonistin trifft, wechseln sich ab, man sagt Hallo, isst vielleicht gemeinsam im Freien und zieht dann weiter seiner Wege. Mit stiller Poesie, manchmal im Gegenlicht oder in Abendstimmungen gefilmt, treffen in diesem erstaunlichen Film harter Realismus auf eine kühne Bildsprache, die durch die Linse von Kameramann Joshua James Richards introspektiv und großzügig wirkt. Kritik am Gesellschaftsmodell der USA blitzt immer wieder auf, ohne explizit zu werden. Am Lagerfeuer der Gemeinschaft fahrender Leute ist von der "Tyrannei des Dollars" die Rede. Eine Frau erzählt irgendwo in diesem Nomadenland von ihrer schweren Krebserkrankung, eine Behandlung scheint jenseits der Möglichkeiten. Beim Blick auf die wenigen Utensilien der Leute, fällt einem nicht zuerst der Reichtum dieses Landes auf. Einer klassischen Dramaturgie folgt "Nomadland" nicht, sondern eher der des Zufalls, wie sie das Leben unter solchen Umständen schreibt. Dass eine derart kompromisslose Arbeit wie diese bei den Oscars als bester Film, mit der besten Regie und für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wird, ist tatsächlich erstaunlich.

Freiheit als Kollateralschaden

Insofern darf man die Überraschung der Regisseurin Chloé Zhao über den Preis verstehen, wiewohl sie schon in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Zhao, in China geboren, hat wie etwa schon in ihrem Porträt eines verletzten First-Nation-Rodeo-Reiters "The Rider" ausschließlich mit Laien gearbeitet. Sie spielen sich zum Teil selbst. Einzig die zwei Hauptrollen besetzte Zhao mit professionellen Schauspielern: McDormand als rastlose Frau mit ihrem Van; und David Strathairn in der Rolle eines Mannes, der eher erfolglos die Nähe von Fern sucht. "Nomadland" ist ein Projekt, in das Zhao und ihre Mitstreiter einiges investiert haben. Sie selbst schrieb das Drehbuch, das auf dem Sachbuch "Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert" der US-amerikanischen Autorin Jessica Bruder basiert. Monatelang hatte sich Bruder für die Recherche selbst unter die Arbeitsnomaden des Landes gemischt. So zog auch Zhao und ihr Tross für den Dreh ein halbes Jahr durch die Badlands von South Dakota und die ariden Hochebenen von Nevada und fing Bilder ein, die selbst zu Grenzgängern zwischen stimmungsvoller Atmosphäre und grimmer, fast post-apokalyptischer Lebensweise wurden. Das Kunstwerk Zhaos liegt darin, die Balance zu halten. Daran trägt auch der italienische Komponist und Pianisten Ludovico Einaudi einen entscheidenden Anteil. Mit seinen Melodien scheint die Schwere des Lebens immer wieder in utopische, luftige Gefilde zu entschweben. Dass Zhao mit "Nomadland" die Freiheit an sich zelebriert, wie das zum Teil in der Rezeption des Films interpretiert wurde, ist aber nicht der Fall. Vielmehr wirkt sie wie ein Kollateralschaden eines deregulierten Staates, in dem sich durch Krankheit oder Kündigung das Blatt rasch wenden kann. Auch die von McDormand verkörperte Fern verließ erst nach dem Tod ihres Mannes das bescheidene Haus einer Arbeitersiedlung. Er hatte in einer Gipsmine gearbeitet, die schließlich geschlossen wurde. In einer Szene lässt der Film Fern in diese aufgelassene Siedlung zurückkehren, um noch einmal auf die Entwurzelung seiner Figur hinzuweisen. Die Freiheit, von der in diesem Film gesprochen wird, ist vor allem im Verlust früherer fester Lebensumstände zu sehen. Denn diese Fern ist keineswegs eine dieser White-Trash-Figuren, mit denen Independent-Produktionen gerne in solchen Kontexten agieren. Wie sie einmal erzählt, hatte sie im Human Ressources Bereich oder auch als Lehrerin gearbeitet. Zur Nomadin wurde sie also erst, als die sozialen Sicherheiten verschwunden waren. Ganz lapidar steigt der Film  also im Leben "danach" ein. Das ist, wie erwähnt, ein Amazon-Fulfillment-Center. "Nomadland" ist eine erstaunliche, kühne, realistische Reflexion unserer Zeit.