Ethan Coen hat seinen ersten Spielfilm als Soloregisseur gedreht: „Drive-Away Dolls“. (Foto: Focus Features)
Gunnar Landsgesell · 30. Okt 2020 · Film

Niemals selten manchmal immer

Zwei Cousinen machen sich auf den Weg aus dem ländlichen Pennsylvania ins liberale New York, wo eine Abtreibung auch ohne elterliche Einwilligung möglich ist. Eliza Hittman inszeniert ein ungemein präzises, kluges, mal leichtfüßig, mal hart anmutendes Filmdrama, dessen Realismus an Arbeiten von Kelly Reichardt oder Debra Granik erinnert.

Es gibt Filme, in denen einem der Dialog erspart, die Bilder zu verstehen, weil bis zu den Motivationen der Figuren alles erklärt wird. Und es gibt Filme, bei denen man selbst Teil des Geschehens wird, Stimmungen nachspürt, eine Situation einzuschätzen versucht, sich immer wieder selbst ein Bild machen muss. „Never Rarely Sometimes Always“ ist so ein Fall. So rau, so nahe an den Figuren, und eigentlich so nahe am Leben wie die New Yorker Regisseurin Eliza Hittman sich durch ihren Film bewegt, ohne dabei an landläufigen Darstellungsweisen von Jugendlichen anzustreifen, ist bemerkenswert. Hittmans Film steht vielmehr in einer Tradition des Realismus, der die Wirklichkeit so lange aussiebt, bis dichte, bedeutungsstarke Szenen übrigbleiben, die weit mehr zu erzählen vermögen als das, was man sieht. Dahinter steckt harte Arbeit.

Präzise im Detail, politisch in seiner Haltung

Im Zentrum steht die 17-jährige Schülerin Autumn (Sidney Flanigan), die schwanger wurde, ihren Working-Class-Eltern aber lieber nichts davon erzählt. Auch sonst ist Autumn recht wortkarg, sie macht die Dinge am liebsten mit sich selbst aus. Neben der Schule arbeitet sie als Supermarkt-Kassiererin, so wie ihre Cousine Skylar (Talia Ryder), die, attraktiv und freundlich, auch schnell ungewollte männliche Blicke anzieht. Schließlich machen sich beide aus dem ruralen Pennsylvania auf den Weg in das liberale New York, wo eine Abtreibung auch ohne die Einwilligung der Eltern möglich ist. Eine Reise mit immer neuen Hürden, die nicht nur vor dem Hintergrund der kürzlich bestätigten, konservativen US-Höchstrichterin Amy Coney Barrett interessant ist. Die Katholikin Barrett lehnt Abtreibungen grundsätzlich ab. 
Auch wenn die Story recht zweckhaft und themengesteuert klingt, fasziniert „Never Rarely Sometimes Always“ gerade durch seine erzählerische Offenheit. Hittman versteht es auf beeindruckende Weise, ihre Bilder immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig fruchtbar zu machen. Da gibt es die ambivalente, mit wenigen Strichen und dennoch präzise umrissene Freundschaft dieser zwei jungen Frauen, die keine Buddys sind, sondern wie durch eine stille Vereinbarung im Moment der Krise einander verbunden. Hittman folgt den zwei Minderjährigen durch die Straßen, die mangels Geld und Erfahrung eher instinktiv das Ziel ihrer Reise, die Abtreibungsklinik, ansteuern. In einer insistierenden, fast quälenden Szene wird Autumn nach den Umständen ihrer Schwangerschaft befragt. Die Szene, aus der auch der Filmtitel entstammt, lässt auf männliche Übergriffe schließen. Ein Beispiel mehr, wie souverän Hittman ihre Genderkritik formuliert, ohne sich platt an männlichen Figuren abzuarbeiten. Gerade durch Auslassungen versteht es die Filmemacherin, auch die misogyne Seite dieser Geschichte zu beleuchten. Ein selbstgerechter junger Typ, der Skylar schon im Bus nach New York anbrät, und dem diese zum Missfallen ihrer Cousine Autumn tatsächlich ihre Handy-Nummer gibt, erweist sich später noch als unfreiwilliger Joker. Auch in solchen Momenten überzeugt „Never Rarely Sometimes Always“ gleichermaßen mit kluger Figurenzeichnung und zugleich in großen politischen Fragen wie jener, wer über den weiblichen Körper bestimmt.