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Gunnar Landsgesell · 08. Okt 2021 · Film

Hinterland

Wien, 1920 in expressionistischen Bilderbögen und als düstere Ballade einer Ritualmordserie. Als tragische Hauptfigur Murathan Muslu als Kriegsheimkehrer, der gleich doppelt in Bedrängnis gerät. "Hinterland" ist ein spannender Entwurf, ein Experiment zwischen Graphic Novel, Thriller und Zeitbild einer Gesellschaft im Umbruch. So gesehen könnte es durchaus ein Herzensprojekt von Regisseur Stefan Ruzowitzky sein.

So düster und elendig hat man Wien – zumindest visuell – noch nicht gesehen (vielleicht in G.W. Pabsts „Die freudlose Gasse“ von 1925). Grotesk verbogene Häuser neigen sich über von existenzieller Not und Kriegswirren gezeichnete Menschen, das schemenhaft in Computern generierte Stadtbild hat für die üblichen aus dem Fundus aufbereitenden historischen Szenerien keinen Platz. „Hinterland“ ist ein starker Entwurf schon deshalb, weil er ein Experiment wagt. Statt auf schnöde historisierende Bilder setzten die Produzenten und Regisseur Stefan Ruzowitzky lieber gleich auf Blue Screen und mischten recht unbekümmert Expressionismus, Game-Ästhetik und Slasher-Anleihen. Erzählt wird die Geschichte des Soldaten Peter Perg, der begeistert in den Krieg zog und nun von jahrelanger, sowjetischer Gefangenschaft zermürbt im Jahr 1920 zurückkehrt. Den Kaiser gibt es nicht mehr, in seiner Wohnung findet er statt seiner Frau und Kinder nur die schnippische Hausangestellte (Margarethe Tiesel) vor. Die Figur dieses Perg (schwermütig von Murathan Muslu verkörpert) wird dabei zur doppelt tragischen und verlorenen Gestalt: Nicht nur hat er seinen Job als Wiens fähigster Kriminalkommissar verloren, enthält man ihm auch die Rückkehr in den Dienst vor. In einer gelungenen Szene erklärt ein herablassender Polizeichef, der selbst seiner K.K.-Privilegien „beraubt“ wurde, Perg zum mutmaßlichen Sowjet-Spion. Dem nicht genug, wird Perg in einer grausamen Serie von Ritualmorden selbst als Täter verhaftet. Von jenen, die in Wien geblieben sind, kann er sich nicht viel erwarten, sie haben es sich gerichtet.

Düstere, nihilistische Energie

„Hinterland“ ist als gesamtes Projekt durchaus auf die Wirkung eines Keulenschlages aus, immer wieder verspürt man in Szenen die Absicht, ohne Umschweife kraftvoll zur Sache zu kommen. Manchmal hat man aber auch den Eindruck, es mit drei Kräften zu tun zu haben, die sich nicht immer leicht bändigen lassen. Erstens die Stadt als CGI-generierter Moloch und lebender Organismus, der manchmal seine Figuren zu verschlingen droht; zweitens die grobkörnige Mördergeschichte, die ihrer Aufklärung entgegenstrebt, jedoch drittens durch ein ganz spezifisches Zeitporträt immer wieder zurückgedrängt wird. Tatsächlich spricht diese Geschichte zum Publikum weniger durch die Figur des Kriminalfalls als durch die innere Zerrissenheit einer Gesellschaft im Übergang. Ein Polizist, ein junger emotionaler Kerl, entpuppt sich überraschend als Anhänger einer bestimmten Ideologie, während die Gerichtsmedizinerin als Feministin einen Gegenpol zum überkommenen Beamtenapparat bildet. „Hinterland“ hat den Anspruch, die Spurensuche nach dem Täter aus den moralischen Dilemmata einer kriegsgebeutelten Gesellschaft heraus zu erzählen. Auch wenn das nicht immer mit der nötigen Feinheit gelingt – erzählt wird im Grunde in einem Modus von Gewinnern und Verlierern –, erweitert die expressive Qualität der Inszenierung, die an eine Graphic Novel erinnert, und die damit verbundene düstere, fast nihilistische Energie der Dramaturgie definitiv die Erzählweisen des heimischen Filmschaffens.