Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Gunnar Landsgesell · 08. Jul 2022 · Film

Corsage

Marie Kreutzer nimmt noch einmal das Leben von Kaiserin Elisabeth in den Blick. Die Themen sind nicht neu: der Rückzug, das Bedürfnis nach Freiheit, das Gefühl der Eingeschlossenheit von „Sisi" sind Teil der Biographie, wurden aber im Film so noch nicht erzählt. Auch die freie Interpretation und die filmischen Mittel von „Corsage" sorgten bei den Filmfestspielen in Cannes für Aufsehen.

“When she was home / She was a swan / When she was out she was a tiger / And a tiger in the wild is not tied to anyone Go, go, go, go away..." Wenn zum Track der französischen Sängerin Camille, „She Was", die Differenz zwischen den Repräsentationszwängen am Hof und den Räumen, die sich diese Frau  zu schaffen versuchte, ausgeleuchtet wird, dann ist man bei Marie Kreutzers Neuinterpretation der „Sisi" schon mittendrin im Geschehen. Hier geht es um Normierungen, etwa des weiblichen Körpers durch Korsagen, die selbst für kleine Mädchen entwickelt wurden und die Bewegungsfreiheit schon auf physischer Ebene limitierten; da geht es um die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten einer Frau, zumal der Kaiserin, blieben. Als Befreiung kann man „Corsage" selbst sehen, zumindest vom verkitschten Bild der „Sisi-Trilogie“ aus den 1950er-Jahren mit der jungen Romy Schneider in der Hauptrolle. Kreutzer hat ihren Film auf das Jahr 1877 beschränkt und zeigt eine 40-jährige Frau (Vicky Krieps als Sisi) im Modus des Widerstands. Nächtliche Ausritte, körperliche Ertüchtigung, ausgedehnte Reisen oder ein bestens eingeübter Ohnmachtsanfall – oder auch das Anker-Tattoo werden als Teil einer Strategie verstanden, sich den äußeren Zwängen zu entziehen.

Vergangenheit ins Heute transferieren

Vieles davon ist durchaus bekannt, etwa durch die Biographie der Historikerin Brigitte Hamann. Auffällig ist hingegen, wie frei der historische Kontext hier interpretiert wird. Das frühe Kino zieht hier um zwei Jahrzehnte zu früh ein, wenn ein Kameramann auf einer Wiese die Kaiserin in den typisch zappeligen Bildern im Melies-Stil einfängt. Ein Sprung von einem Schiff und mehrmalige suizidale Anspielungen eröffnen ebenso Interpretationsspielräume wie die Sprache: „Alles gut" oder „Arschloch" kennt man eher aus unserer Zeit. Selbst der Kaiser nimmt seine aufgeklebten Koteletten nach offiziellen Terminen ab, während einige Räumlichkeiten nicht wie im Schloss, sondern wie „Backstage" aussehen. Das sind stilistische Mittel, die Vergangenheit ins Heute zu transferieren, wie sie etwa auch Andrea Arnold („Wuthering Heights"), Cary Fukunaga („Jane Eyre") oder zuletzt Pablo Larrain in seiner eigenwilligen Lady Di-Biographie „Spencer" verwendet hat. Neue Aufschlüsse über die Person Elisabeth finden sich in „Corsage" eher nicht, die Figur selbst sieht Kreutzer in einem Interview nicht als feministische Vorreiterin, weil sie nicht für Frauen gekämpft habe. Das Ziehen einer Linie patriarchaler Verhältnisse bis in die Gegenwart ist hingegen augenfällig. Dass die Interpretation der Rolle zur körperlichen Erfahrung wird, daran hat die luxemburgische Schauspielerin Vicky Krieps wesentlichen Anteil. Sie spielte mit einem Korsett und beschreibt eindrücklich, wie es einem darin die Luft zum Atmen nimmt. Für ihr Spiel erhielt sie in Cannes, wo der Film in der Reihe „Un certain regard" lief, den Preis als beste Darstellerin. Krieps war es auch, die Kreutzer vor einigen Jahren auf den Stoff aufmerksam gemacht hatte. Mit „Corsage", den die deutsche Regisseurin und Produzentin Maren Ade („Tony Erdmann") mitproduziert hat, hat sich Marie Kreutzer jedenfalls neu aufgestellt.