Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Walter Gasperi · 16. Jun 2022 · Film

Aktuell in den Filmclubs (17.6. - 23.6. 2022)

IIm Kinotheater Madlen in Heerbrugg läuft diese Woche das unglaublich authentische und kraftvolle Sozialdrama „La Mif". Beim Filmforum Bregenz steht dagegen unter anderem Joachim Triers bezaubernde melancholische Liebeskomödie „Der schlimmste Mensch der Welt" auf dem Programm.

La Mif: Fred Baillif zeichnet in seinem zweiten Spielfilm dichte Porträts von 14- bis 18-jährigen Mädchen, die in einem Westschweizer Heim für Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen leben, sowie der Heimleiterin.
Schon mit der ersten Szene wirft Baillif die Zuschauer:innen mitten hinein ins Heimleben. Hautnah an den heftig streitenden Teenagern ist die unruhige Handkamera, keinen Überblick gewährt sie, sorgt aber vom ersten Moment an für eine kraftvolle und energetische Erzählweise, die bis zum Ende nie nachlässt.
Wie bei diesem Auftakt spürt man durch den ganzen Film, dass Fred Baillif genau weiß, wovon er erzählt und mit den Verhältnissen bestens vertraut ist. Jahrelang arbeitete der 48-jährige Genfer als Sozialarbeiter, als Filmemacher ist er Autodidakt. „La Mif" hat er zusammen mit den jugendlichen Laiendarstellerinnen entwickelt. Nur einen Plot, aber kein fixes Drehbuch gab es. Die Dialoge entwickelten die Jugendlichen selbst und man spürt in deren Spiel ihre eigene Heimerfahrung. Mehr Authentizität als hier geboten wird, geht in einem Spielfilm kaum: Keine Szene, kein Dialog, keine Figur wirkt hier gekünstelt, aus dem quasidokumentarischen Charakter entwickelt dieses Sozialdrama einen großen Teil seiner Kraft.
Aber auch der Aufbau überzeugt. Baillif entwickelt keine lineare Handlung, sondern zeichnet durch Kapitelüberschriften getrennt die Porträts der einzelnen Jugendlichen. So wiederholen sich Szenen mit einem neuen Kapitel teilweise wieder aus anderer Perspektive, andererseits weitet sich wie bei einem Puzzle sukzessive das Bild und drittens werden mit den einzelnen Jugendlichen auch verschiedene Problemfelder beleuchtet.
Aber auch Diskussionen der Heimleiterin mit dem Stiftungsrat, der um den guten Ruf der Institution fürchtet, oder Sitzungen der Betreuer spart Baillif nicht aus. – Und alles wirkt immer so echt, dass man nur staunen kann, dass dies ein Spielfilm und kein Dokumentarfilm ist.
Kinotheater Madlen, Heerbrugg: Mo 20.6., 20.15 Uhr

Der schlimmste Mensch der Welt: In einem Prolog, zwölf Kapiteln und einem Epilog zeichnet der Norweger Joachim Trier ein Porträt der etwa 30-jährigen Julie (Renate Reinse), die noch nicht so genau weiß, was sie im Leben will. Nicht nur die Kapitelgliederung, sondern auch die leichte und verspielte Erzählweise, durch die alles Schwere abgefedert wird, weckt Erinnerungen an die französische Nouvelle Vague. Auch eine Off-Erzählerin, die nicht nur Ereignisse rafft, sondern teils auch wörtlich wiederholt, was im Dialog gesagt wird, verleiht dieser Liebeskomödie nicht nur Leichtigkeit, sondern trägt auch zur melancholischen Stimmung bei.
Getragen wird „Der schlimmste Mensch der Welt" aber von der großartigen 34-jährigen Renate Reinsve, die für ihre Verkörperung der Julie 2021 in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. In jedem Blick und jeder Geste macht sie die Unsicherheit und Unentschlossenheit dieses Charakters spürbar.
Während die meisten anderen Filme aber eine Entwicklungsgeschichte erzählen und am Ende eine klare Entscheidung des Protagonisten oder der Protagonistin steht, bleibt diese Julie bis zum Ende ambivalent. Beruflich scheint sie sich zwar als Fotografin gefunden zu haben, doch wie ihre private Zukunft aussehen soll, bleibt offen. – Und nicht zuletzt diese Offenheit ist es, die anregt, auch über das eigene Leben nachzudenken.
Filmforum Bregenz: Do 23.6., 20 Uhr

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