Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Füssl · 30. Mär 2022 · CD-Tipp

Vincent Peirani: Jokers

Ob in Duos mit dem Pianisten Michael Wollny oder dem Saxophonisten Emile Parisien, im Quartett mit Wollny, Parisien und dem Schweizer Vokalartisten Andreas Schaerer oder mit seinem „Living Being“-Quintett, spätestens seit dem 2013-er ACT-Debüt „Thrill Box“ zählt der aus Nizza stammende und in Paris lebende Akkordeonist und Komponist Vincent Peirani zu den absoluten Garanten für hochklassige musikalische Überraschungen. Das gilt besonders auch für sein neuestes Projekt, hat er doch im in Paris lebenden italienischen Gitarristen Federico Casagrande und im in New York residierenden israelischen Drummer Ziv Ravitz die idealen Brüder im Geiste gefunden, um diesen wahnwitzigen, aus Rock, Jazz und Film Noir-Artigem gespeisten musikalischen Hybrid zum Leben zu erwecken.

Mit den Erfahrungen aus dreißig Konzerten im Rücken verfügte das Trio einerseits über ein hohes Maß an wechselseitigem Einfühlungsvermögen und kommunikativen Erfahrungen, anderseits führte der Beschluss, im Studio nur noch nie gespieltes Material aufzunehmen, dazu, dass alles – frei von jeglicher Routine – frisch und unverbraucht klingt. Erstmals wühlt Peirani auch tief in der Electronic-Trickkiste, sowohl am Akkordeon als auch bei der Post-Produktion, wo er den Aufnahmen ausgeklügelte musikalische Outfits verpasste, die zum Teil selbst seine Mitstreiter überraschten. So lässt er etwa den von den schrill-theatralischen US-Schock-Rockern Marilyn Manson vor fast zwanzig Jahren veröffentlichten Opener „This Is The New Shit“ mit zart verträumten Spieluhr-Klängen und Glockenspiel beginnen, ehe es mit nervösen Akkordeon-Akkorden, Brachial-Gitarre und rumpelnden Drums mit druckvoller Vehemenz zur Sache geht. Den fünf Jahre alten Hit „River“ der Londoner Alternative-Electronicerin Bishop Briggs taucht das Trio in coole Southern-Rock-Grooves inklusive gespenstischem Chain-Gang-Gesang und eigentümlich verwehtem Outro. Mit nervös dengelnden Drums und verzerrten Akkordeontönen klingt „Copy of A“ weit härter als das Original der Industrial-Rocker Nine Inch Nails, die zu den Lieblingsbands Vincent Peiranis zählen. Der steuert vier Eigenkompositionen bei, in denen das Trio seine verblüffende Soundpalette, seinen Einfallsreichtum und seine enorme stilistische Bandbreite einbringen kann. Das lässig swingende „Salsa Fake“ macht seinem Titel alle Ehre, nimmt dann aber massiv an Fahrt auf, bis sich Peiranis Akkordeon nahezu überschlägt und Casagrande klingt, als hätte man Carlos Santana auf Höchstgeschwindigkeit gedreht. Das sonderbare „Circus of Light“ wirkt wie eine atmosphärische Collage aus Rummelplatzklängen, und „Les Larmes de Syr“ überzeugt als schönes, melancholisches Stimmungsbild, während Peirani mit dem quicklebendigen „Heimdall“ tief in die nordische Mythologie eintaucht und dem weisen und kampfstarken Asen eine stimmige Hommage widmet. Federico Casagrandes „Twilight“ fängt auf wundervolle Weise eine zauberhafte Abendstimmung ein und sorgt für einen Ruhepol im abwechslungsreichen Geschehen, das mit einer meditativen, sonnendurchfluteten Version des Schmachtfetzens „Ninna Nanna“ – einer Verbeugung der Brüder Frederico und Roberto Alagna, letzterer ein bekannter französisch-italienischer Opernsänger, vor ihrer ursprünglichen Heimat Sizilien – endet. Vincent Peirani sprengt erfreulicherweise wieder einmal alle Grenzen.

(ACT)