Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Füssl · 18. Apr 2022 · CD-Tipp

Jean-Michel Blais: Aubades

Wer sich über die ohnehin ständig fluktuierenden Grenzen zwischen Schönheit und Kitsch wenig Gedanken machen will und sich an den Werken von Neo- oder Post-Klassikern wie Nils Frahm, Max Richter, Ólafur Arnalds oder Ludovico Einaudi erfreut, kann sich sicherlich auch für das vierte Album des jungen Kanadiers Jean-Michel Blais begeistern. Der 36-jährige Komponist und Pianist aus Montreal schöpft wie viele Vertreter dieses Genres aus Klassik bzw. Romantik, Jazz und Minimal Music. Als Bezugspunkte können die üblichen Verdächtigen Chopin, Satie oder Glass genannt werden, aber auch Ravel und der Ambient-Komponist Harold Budd.

Blais, der nur kurz studierte und im Wesentlichen Autodidakt ist, setzt weniger auf Perfektion denn auf klangliche Vielfalt, subtile Emotionen und Nuancenreichtum. Nachdem der Pianist zuletzt zunehmend auch elektronische Elemente eingesetzt hatte, ging er nun einen entscheidenden Schritt weiter und komponierte erstmals auch für andere Instrumente. Blais stellte ein 12-köpfiges Ensemble aus Bläsern und Streichern zusammen und ließ sich vom ehemaligen Philip Glass-Assistenten Alex Weston bei den Arrangements assistieren. Der Titel „Aubades“ gibt die Grundstimmung der elf Stücke vor, denn so wurden ab dem Mittelalter Liebeslieder genannt, die die Trennung der Liebenden beim Morgengrauen zum Thema hatten – aber auch Ravel, Satie oder Poulenc komponierten Aubades. Nicht nur beim Opener „murmures“ – eine Hommage an Philip Glass – durchweht wehmütige Schönheit die seriell angelegten Arpeggios des Pianos und verstärken warme Streicher- und Holzbläser-Passagen die Stimmungen, während die wundervollen Melodien hypnotische Kräfte entwickeln. Es gibt aber auch Spielerisches wie „passepied“, das sich den gleichnamigen französischen Rundtanz der Barockmusik zum Vorbild genommen hat, lässig-lebensfrohe Grooves („nina“), Hochgeschwindigkeitsminimalismus („yanni“) oder friedvoll Umnebeltes („absinthe“). Die Mikros wurden extrem nah an den Instrumenten platziert, wodurch auch Nebengeräusche beim Spielen hörbar werden, was zusammen mit kurzen, zwischen den MusikerInnen gewechselten Gesprächsfetzen eine Art Live-Gefühl vermittelt. Jean-Michel Blais wollte auf die Pandemie und die Lockdowns mit erhebenden, vorwiegend in Dur gehaltenen Klängen reagieren, um wieder ein Gefühl von Wärme, Kraft und Lebensfreude aufkommen zu lassen. Das ist ihm ebenso gelungen, wie die eindrucksvolle Weiterentwicklung vom improvisierenden Musiker zum Komponisten, denn er hat aus mehr als 600 aufgenommenen Pianoimprovisationen letztlich diese elf Kompositionen herausdestilliert. Chapeau!

(Mercury/Universal)