Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Füssl · 06. Sep 2020 · CD-Tipp

JARV IS...: Beyond The Pale

Jarvis Cocker ist wieder da, und wie! Als Pulp-Mastermind hatte er den Untergang des Brit-Pop begrüßt, weil der sich seiner Meinung nach in biederer Nostalgie verloren hatte. Er trat musikalisch in den letzten 20 Jahren aber nur sehr selten, etwa mit zwei Solo-Platten, einer kurzfristigen Pulp-Reunion und dem Nischen-Projekt „Room 29“ mit Chilly Gonzales in Erscheinung. Dafür arbeitete er als Lektor bei Faber &Faber, als Programmgestalter bei der BBC, schrieb ein paar Songs für Marianne Faithfull, Nancy Sinatra und Charlotte Gainsbourg, heiratete und zog nach Frankreich, ließ sich scheiden und zog zurück nach England. Nun legt der 56-jährige, immer etwas verwuschelt wirkende Dandy mit neuer, fern jeglicher übertriebener Bescheidenheit JARV IS... genannter, sechsköpfiger Band, die 2017 aufgrund einer Festivaleinladung von Sigur Ros nach Reykjavik zusammengestellt wurde, wieder einmal ein Album mit neuen Songs vor.

Hier geht’s zumeist ums naheliegende Thema des Älterwerdens, das – wie es sich für Jarvis Cocker gehört – gerne aus einer ironischen Grundhaltung heraus betrachtet wird. Der Soundtrack dazu klingt wie Pulp auf einer phantasievollen Ebene mit Indie-Pop und Electronics in die 2020-er Jahre transferiert. Der düstere Opener „Save The Whale“ wirkt vom tiefen Sprechgesang und den Backgroundsängerinnen her wie eine Hommage an den von Cocker verehrten Leonard Cohen. Das zweideutige „House Music All Night Long” kann als wehmütige Reminiszenz des früher mal begeisterten Ravers verstanden werden, der jetzt nur noch zuhause abhängt, aber auch als (zeitlich) vorweggenommener Quarantäne-Song. „Must I Evolve?“, ein witziges gesangliches Frage-Antwort-Spiel zwischen Cocker und Serafina Steer und Emma Smith, ist nichts weniger als eine in schweißtreibendem Tempo in Songform gegossene Abhandlung zur Evolutionstheorie – die uns bei Cocker allerdings zurück in die Steinzeit führt. Hinter dem Alltäglichen lauert immer das Unerwartete, hinter der Lebenslust die Vergänglichkeit: „This body is a temporary home / This body wants to take your body home“ heißt es im nachdenklich-beschwingten, elektronisch verbrämten „Am I Missing Something?“, und in „Swanky Modes“ findet sich die bange Frage: „Ain’t it sad when your dreams outlast you?“. Cockers Vorliebe für absurde Blickwinkel lässt ihn im gespenstischen „Sometimes I am Pharaoh“ in die Rolle einer lebenden Statue, eines regungslosen Straßenpantomimen schlüpfen, der jede/n unbemerkt beobachten kann – Verfolgungswahn inkludiert. Ernsthafte Themen, die betroffen machen können, aber Cocker ist kein Kind von Traurigkeit – Ironie und Tanzbarkeit helfen über alles hinweg, oder wie Jarvis Cocker singt: „I don’t want to dance with the devil / But do you mind if I tap my foot?“

(Rough Trade/Beggars)