Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Füssl · 04. Okt 2021 · CD-Tipp

Halsey: If I Can’t Have Love, I Want Power

Den Song „More“ auf ihrem Anfang 2020 erschienenen Album „Manic“ richtete Halsey, die davor drei Fehlgeburten zu beklagen hatte, an ihr vorerst leider nur imaginäres Kind. Nun präsentiert sie sich auf dem Cover ihres aktuellen Albums in einer Madonna-lactans-Pose, die frappant an das berühmte Frührenaissance-Gemälde „Die thronende Madonna mit dem Jesuskind“ von Jean Fouquet aus dem Jahr 1456 erinnert. Oder Halsey in der Rolle der heiligen Hure? Für Verfechter:innen radikaler Sittlichkeit ist übrigens in den USA auch eine keusche Cover-Variante erschienen, auf der das Baby den rechten Arm computergeneriert in die Höhe streckt und damit wenigstens die Brustwarze verdeckt.

Das war’s dann aber auch schon mit irgendwelchen Zugeständnissen seitens Ashley Nicolette Frangipanes, die unter dem Anagramm Halsey mit allen vier bisher erschienen Alben Top-Positionen in den US- und UK-Charts erreichte und mit global mehr als 30 Milliarden Streams zu den erfolgreichsten Künstler:innen überhaupt zählt. Und das obwohl die sich selber als „tri-bi“ (bisexual, biracial, bipolar) bezeichnende Elektro-Pop-Singer-Songwriterin ihren Fans niemals leicht verdauliche Kost bot. So handeln auch die wie immer exzellenten Lyrics der mittlerweile 27-Jährigen – die nebenbei bemerkt letztes Jahr mit ihrem ersten Buch „I Would Leave Me If I Could: A Collection of Poetry“ die „New York Times“-Bestsellerliste enterte – nicht von Stolz und Mutterfreuden, sondern von Stigmata und Vorurteilen gegenüber Schwangeren und jungen Müttern, die gerade eine Geburt hinter sich gebracht haben, von freud- und leidvollen Schwangerschafts- und Gebärerlebnissen, von misogynen Lovern und dem Teufel höchstpersönlich. Musikalisch hat die Wahl-New Yorkerin in den Nine Inch Nails-Masterminds Trent Reznor und Atticus Ross kongeniale Partner gefunden, da sich deren eher düsterer Mix aus Alternative Rock, Industrial und diversen Electronica-Spielarten auf symbiotische Weise mit Halseys Alternative Electronic-Pop-Vorstellungen kombinieren lässt. Das Spektrum gerät verblüffend breit - vom geheimnisvoll klingenden Piano-Song „The Tradition“, über das klassische Fingerpicking von „Darling“, bis zum düster-verzerrt groovenden „The Lighthouse“, vom nervös-aufgekratzten Synthie-Pop von „I am Not a woman, I’m a God“ bis zum angstvoll beschwörenden, mit zarten Klangtupfern unterlegten „Ya’aburnee“. Stars wie der ehemalige Fleetwood Mac-Gitarrist Lindsey Buckingham oder Dave Grohl in seiner alten Rolle als Drummer schauten mal kurz für Hilfsdienste im Studio vorbei – vielleicht eine Huldigung der mit neuem Selbstverständnis agierenden Halsey auf dem (Alternative-Pop-)Thron, die mit ihren ausdrucksstarken Texten und ihrer emotional fesselnden Stimme gleichermaßen gefangen nimmt. Love and Power!

(Capitol/Universal)