Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 05. Dez 2019 · CD-Tipp

FKA Twigs: Magdalene

Eingehüllt in exzentrische Designerstücke, manchmal nur wenig mehr als ein Hauch von Nichts, futuristische Hutmodelle deckeln kunstvoll kolorierte, wild verflochtene Haarzöpfe und Rastalocken, ein extravagant geschminktes Gesicht, die Zähne mit Gold- und Türkisplättchen überzogen, kunstvoll dekorierte, extralange Fingernägel – wen wundert’s, dass im ihr zu Füßen liegenden Musikfeuilleton gerne von einer außerirdischen Erscheinungsform die Rede ist? Die gerade einmal 31-jährige Tahliah Debrett Barnett, besser bekannt unter ihrem Nom de Guerre FKA Twigs, verfügt über eine Unzahl extraterrestrisch anmutender Talente, die sie etwa in ihren sehenswerten Musikvideos zu kleinen ausgeflippten Tanz-Kampfsport-Musik-Gesamtkunstwerken bündelt.

Aber die neue Stil-Ikone hat der experimentierfreudigen Popmusik weit mehr zu bieten als eine atemberaubende Optik! Nach ihrem vor fünf Jahren erschienenen Debüt „LP1“ und drei EPs stellt die Engländerin nun mit „Magdalene“ klar, dass sie in einer Liga mit Ausnahmeerscheinungen wie Kate Bush oder Björk mitspielen kann. Sie lässt an ihre Songs zwar Starproduzenten wie Nicolas Jaar, Skrillex, Jack Antonoff oder Daniel Lopatin Hand anlegen und lädt den Trap-Rapper Future ein, aber nur um sich derer Ideen für neuerliche eigenwillige Mixe zunutze zu machen. Sie lässt mittelalterlich wirkende Choräle auf Perkussionsdonnern und Störgeräusche prallen, Pianoklänge auf Industrial-Sounds und Post-R’n’B-Artiges treffen, integriert verschiedenste elektronische Stilarten und nutzt auch für ihre sich über mehrere Oktaven spannende, ausdrucksstarke Stimme abenteuerliche Verfremdungseffekte bis hin zur akustischen Selbstauflösung. Ihre Kompositionen verweigern klare, durchgehende Strukturen, es sei denn man betrachtet das Aneinanderreihen von Brüchen und verblüffenden Richtungsänderungen, das wildwuchernde Mäandern durch fragile Soundscapes als musikalisches Regelwerk. Das mag sich kompliziert lesen, hört sich aber – weit entfernt von jeglicher Charts-Tauglichkeit – phantastisch an. Inhaltlich verarbeitet FKA Twigs in den neun Songs herbe Schicksalsschläge wie die Trennung von ihrem Langzeitpartner, dem „Twilight“-Star Robert Pattison, oder eine Gebärmutter-Operation, bei der man ihr sechs gutartige Tumore entfernte. Aber frau kann aus Liebesleid und Schmerz, aus Niederlagen und purer Verzweiflung gestärkt hervorgehen und an Selbstbewusstsein, Lebensfreude und Durchschlagskraft gewinnen. FKA Twigs ist zerbrechlich und verwundbar, lässt dabei jedoch stets auch lustvoll die Muskeln spielen, ist kämpferisch und unangepasst – all das transportiert sie mit ihrer hellen, wandlungsfähigen, sinnlichen, manchmal auch nur zart hauchenden Stimme. Eindimensionales kommt in ihrem Weltbild nicht vor, schon gar nicht, wenn es um Begehren und Sex geht. Dementsprechend ist die von der männerdominierten katholischen Kirche lange verteufelte Maria Magdalena das perfekt gewählte Rolemodel: Heilige, Jungfrau oder Hure, Verführerin oder weise Heilerin und Beraterin – das „oder“ ist durch ein „und“ zu ersetzen, ist die unangepasste Pop-Avantgardistin überzeugt, denn die emanzipierte Frau kann immer beides gleichzeitig sein.

(Young Turks/XL/Beggars).