Brittany Howard: Jaime
Es war wohl die persönliche Zwischenbilanz, die sie anlässlich ihres 30. Geburtstags und ihres Umzugs in den Topanga Canyon im Hinterland von Los Angeles zog, die sie aus der angenehmen Komfortzone der Retro-affinen Schublade, in die sie die Plattenindustrie stecken wollte, und der damit verbundenen Routine des Band-Lebens ausbrechen ließ. Die elf Songs sind ihrer im Teenager-Alter an Krebs gestorbenen älteren Schwester Jaime gewidmet, von der sie das Schreiben von Texten und das Klavier- und Gitarrespielen gelernt und die sie mit der Musik von Prince, Janis Joplin und George Clinton bekannt gemacht hatte. Brittany Howard hat an Selbstbewusstsein zugelegt, gewährt sehr persönliche intime Einblicke in ihr Leben – etwa, wie es war, als Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters in den Südstaaten aufzuwachsen, oder wie es ist, als lesbische Frau in keine der gängigen Schubladen zu passen, oder ihr Verhältnis zur Religion. Sie wollte sich bei den Themen ihrer Songs nicht dreinreden lassen und sie wollte auch musikalisch Neues probieren können. Deshalb nahm sie nur Alabama Shakes-Bassist Zac Cockrell, mit dem sie schon seit ihren Highschool-Tagen zusammenspielt, mit ins Solo-Projekt und holte sich für den kreativen Input zwei Jazzer, die ihre Soundpalette auffrischten: den gerade sehr angesagten und neue Wege weisenden Keyboarder Robert Glasper und den Drummer Nate Smith. Wo Brittany Howard draufsteht ist natürlich auch Britanny Howard drinnen, deshalb ist es keineswegs so, dass Alabama-Shakes-Fans nicht auf ihre Kosten kämen. Ihre rauen, manchmal an Janis Joplin erinnernden, extrem emotionalen Vokaleruptionen („Baby“, „Stay High“) in reizvollem Kontrast zu lyrischen Songs („Georgia“), ihr wild-archaisch wirkendes, mit Kanten und Ecken gespicktes Gitarrenspiel – das löst alles einschlägige Erinnerungen aus. Auf „Jaime“ hat aber auch ein schräger Funk wie der Opener „History Repeats“, das rumpelnde „He Loves Me“ mit eingestreuten Wortsprengseln aus der Predigt eines Pastors, die mit einer wilden Soundattacke unterlegte Spoken-Word-Performance „13th Century Metal“ oder die düstere Dramatik des ins Handy gesungenen Closers „Run to Me“ Platz. Auf „Goat Head“ lässt Howard den groovenden Sound und die brutalen Lyrics, die von einem realen rassistischen Angriff auf ihre Familie berichten, wirkungsvoll auseinanderdriften. Es ist ein experimentelles, über weite Strecken Jam-artig und rudimentär wirkendes, 35 Minuten andauerndes Gewitter, aus dessen düsteren Wolken plötzlich „Short And Sweet“ als völlig unerwarteter Sonnenstrahl hervordringt – ohne jegliche weitere Begleitung von Brittany Howard ganz herkömmlich zur Gitarre gesungen. Diese Frau hat noch viel Potenzial und ihren Zenit noch lange nicht erreicht.
(Columbia/Sony)