Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Peter Füssl · 12. Jul 2022 · CD-Tipp

Angel Olsen: Big Time

Im Video zum Opener „All The Good Times“ nimmt Angel Olsen ganz offensichtlich Abschied von ihrer eigenen Vergangenheit: „So long, farewell, this is the end, I’ll always remember you just like a friend“ singt sie ihrer alten Identität nach, denn vor einem Jahr hatte die damals 34-jährige Singer-Songwriterin auf Instagram mit den Zeilen „My beau, I’m gay“ ihr queeres Coming-Out, das sie als Befreiungsschlag empfand. Die emotional höchst mitteilsame Sängerin hat auch auf den Vorgänger-Alben ihr Herz niemals zur Mördergrube gemacht, und es ist wenig verwunderlich, dass sie die Fans nun auch an ihrer neugewonnenen Freiheit, an den optimistisch stimmenden Perspektiven und an ihrer neue Liebe teilhaben lässt – etwa beim gemütlich schunkelnden, schwärmerischen Titelsong „Big Time“, oder beim sich dramatisch aufbäumenden „Go Home“ („Forget the old dream / I got a new thing.“).

Angel Olsens Freude war in ihrer ungetrübten Form aber nur von extrem kurzer Dauer, denn drei Tage, nachdem sie sich auch gegenüber ihren konservativen Eltern geoutet hatte, starb ihr Vater, zwei Wochen später dann ihre Mutter, womit sich mit Trauer, Verlust und wehmütigen Erinnerungen ein neues emotionales Feld eröffnet hat, das diesem Album einen Stempel aufdrückt. Mit ihrer emotional wandlungsfähigen Stimme bringt sie atmosphärisch jede Gemütsregung perfekt herüber – ob warmherzig oder cool, melancholisch, aufmüpfig, angriffig oder lebensklug. Auch musikalisch ist Angel Olsen stets im Wandel begriffen, ihre Alben entwickelten sich von kargem Lo-Fi Folk über Indie-Rock und -Pop zu orchestraler Breitwand-Opulenz. Mit dem aktuellen Album öffnet sie sich – verdeutlicht durch reichlich Pedal Steel Guitar – ganz klar dem Country-Genre, wobei sie in Jonathan Wilson als Musiker und Co-Produzent genau den richtigen Mann dafür gefunden hat. Dieses Album ist aber auch eine grandiose Ansammlung herrlicher, zumeist von Piano-Klängen eingeleiteter Balladen – vom traumhaft verhallten „Ghost On“ über das zartschmelzende „Right Now“, vom mit wimmernder Steel-Guitar verzierten „This Is How It Works“ bis zum fast schon Soundtrack-artigen 50er Jahre Piano-Streicherschmelz-Mix des Closers „Chasing The Sun“. So schön kann Retro sein. Angel Olsen-Kenner:innen wissen allerdings längst, dass die wunderschöne Musik keineswegs mit dem Inhalt der Texte korrespondieren muss – ganz im Gegenteil. Aber genießen wir den gedankenvoll aufgeladenen, warmen Schönklang von „Big Time“ – Änderungs- und Anti-Stillstands-Junkie Olsen bastelt sicher schon an der nächsten musikalischen Reinkarnation.

(Jagjaguwar)

Konzert-Tipp: Angel Olsen-Fans müssen sich hierzulande noch ein bisschen gedulden: Kaufleuten Zürich (2.10.), Freiheitshalle München (4.10.), WUK Wien (5.10.)