Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Karlheinz Pichler · 30. Aug 2020 · Ausstellung

Wenn sich das Selbstbildnis in der Zeichnung auflöst - Gerhard Richter im Kunstmuseum Winterthur

Einem ungewohnten und überraschenden Gerhard Richter kann man derzeit im Kunstmuseum Winterthur begegnen. Gezeigt wird eine durchgängige Serie von fast hundert mit Bleistift gezeichneten Selbstbildnissen des aktuell wohl wichtigsten Kunstexports Deutschlands. Wobei sich das aufs Papier gesetzte Profil Richters zusehends in der Bewegung des Zeichenstifts auflöst und die iterativ angeordnete formale Recherche sukzessive zum freien Tanz der Linien mutiert.

Entstanden sind diese Selbstbildnisse bereits im Jahre 1993. Richter hat eigens für die Vorzugsausgabe seiner „Schriften und Interviews“, die 1993 im Insel Verlag in einer Auflage von 100 Exemplaren erschienen ist, einen Werkblock entwickelt. Der 1932 in Dresden geborene Künstler, der über zwanzig Jahre lang Professor für Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf war, zeichnete für diese Vorzugsausgabe mit Bleistift „Selbstporträts“ im Format 23,5 x 17,7 cm auf die Rückseite einer eingebundenen Porträtfotografie. Die Fotografie ist in den 1960er Jahren entstanden und zeigt Gerhard Richter als jungen Künstler.       
Richter war von dieser fast meditativen Arbeit so angetan, dass er zwischen dem 3. September und 12. Dezember 1993 auf losen Blättern noch 94 weitere Selbstbildnisse zeichnete und diese datierte und signierte. Somit sind also in Summe fast 200 solcher gezeichneter Selbstporträts entstanden. Trotz der iterativen Vorgangsweise weist jedes einzelne Exemplar dieser Zeichnungen eine formalästhetische Eigenständigkeit auf. „Die Bleistiftzeichnungen bilden eine offene Reihe von Variationen, deren Anspruch nicht die allmähliche Annäherung an ein perfektioniertes Endergebnis, sondern die serielle Erprobung unterschiedlicher, aber gleichwertiger Möglichkeiten der Darstellung innerhalb begrenzter Vorgaben ist,“ heißt es in einem Begleittext zur erstmaligen Präsentation dieser 94 Blätter vor zwei Jahren im Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.      

Bislang kaum beachtet      

Konrad Bitterli, der Direktor des Kunstmuseums Winterthur, hat die Gelegenheit ergriffen, und diese 94 auf lose Blätter gezeichneten Selbstbildnisse nun in die Schweiz geholt. Unter dem Titel „Gerhard Richter. 100 Selbstbildnisse“ kann damit in Winterthur ein Aspekt im Schaffen des Künstlers in Augenschein genommen werden, dem bislang kaum Beachtung geschenkt wurde. Bei der Serie wird evident, dass der Künstler dem fotografischen Vorbild nur sehr frei gefolgt ist. So gibt es Beispiele, bei denen er den Kopf skizzenhaft mit wenigen Umrisslinien angelegt hat, während andere das Motiv kubistisch verfremden. In zahlreichen Selbstbildnissen präsentiert sich Richter zudem mit Brille oder Hut. So geben die Zeichnungen eigentlich mehr das Konterfei des Künstlers im Entstehungsjahr der Arbeiten 1993 wieder, als das des jungen Gerhard Richter auf der fotografischen Vorlage der 1960er-Jahre.      
Museumschef Konrad Bitterli sieht in diesem zusammenhängenden Zyklus einen hochinteressanten neuen Zugang zum Selbstbildnis, „das nicht mehr versucht, Psychologie zu sein, sondern eigentlich Zeichnung ist.“ Auf der einen Seite sei das Persönliche, das man mit dem Selbstbildnis verbinde, gleichsam als Folie unterlegt, und zu gleichen Teilen verselbständige sich hier die Zeichnung jedoch, so Bitterli, der gleichzeitig auch Kurator der Ausstellung ist.       
Die Hängung der Zeichnungen in Winterthur ist linear und chronologisch erfolgt, von der ersten Zeichnung bis zu den letzten. Wie ein Band auf Augenhöhe besetzen die Arbeiten die schneeweissen Museumswände. Dadurch lassen sich auch bestens die Veränderungen von einer Zeichnung zur nächsten ablesen. Vom Prozessablauf erinnert das Ganze ein wenig an die Softwareentwicklung. Hier erfährt ja das entsprechende Programm auch mit jeder neuen Version eine sukzessive Veränderung, - bis nach dem Xten Update nichts mehr vom Ursprungsprodukt erkennbar ist.      

Gerhard Richter - 100 Selbstbildnisse
bis 4.10.
Di 10-20, Mi-So 10-17 Uhr
Kunstmuseum Winterthur

www.kmw.ch