Die Gletscher packen ihre Koffer – Kunstforum Montafon thematisiert das Schmelzen und Schwinden des Eises
Der Rückzug der Gletscher und das Abschmelzen von Schnee und Eis zählen zu den sichtbarsten Mahnmalen des Klimawandels und der Erderwärmung. Das Kunstforum Montafon (KFM) nähert sich diesem wichtigen Thema im Rahmen der Ausstellung „Vom Schmelzen und Schwinden“ mit teils beeindruckenden Werken von zwölf Kunstschaffenden. Die Schau visualisiert mit unterschiedlichsten Techniken den teils verheerenden Zustand der Gletscher und wartet neben guten Kunstwerken auch mit etlichen Denkanstößen auf.
Ausgangspunkt der von KMF-Leiter Roland Haas initiierten und kuratierten Ausstellung ist dessen künstlerische Beschäftigung mit dem Phänomen des Gletscherschwundes seit über dreißig Jahren. Konkret sei ihm der Gletscherschwund erstmals im Rahmen eines längeren Arbeits- und Studienaufenthaltes in den 1990er Jahren in Neuseeland drastisch vor Augen geführt worden, lässt der Montafoner Künstler und Ausstellungsmacher wissen. Seither setze er sich immer wieder mit dieser Problematik auseinander. So dokumentiert er beispielsweise seit 1998 im Zuge der SilvrettAteliers regelmässig den im Silvretta-Massiv gelegenen Ochsentaler Gletscher malerisch. In seinem aus fünfundzwanzig Sequenzen bestehenden Aquarell, das im Kunstforum gezeigt wird, sinniert er malerisch über den möglichen Verlauf der Eisschmelze dieses Gletschers von 1920 bis 2120.
Schmelztempo ist dramatisch
Egal, ob man sich heute in Norwegen, in der Schweiz oder in Österreich aufhält. Wo früher Eis war, sieht man heute überall Geröll und blanke Felsplatten. Speziell die Gletscher im Alpenraum schmelzen in einem Tempo, das selbst Klimaforscher überrascht. Derzeit gibt es in den Alpen noch rund 5000 Gletscher. Die Experten rechnen mit einem fast vollständigen Abschmelzen noch in diesem Jahrhundert. Wobei ihr Verschwinden verheerende Auswirkungen haben könnte, etwa auf die Wasserversorgung. Große europäische Flüsse wie Rhône und Rhein entspringen ja in Gletschergebieten. Das Süßwasser aus der Gletscherschmelze gilt als das wichtigste Trinkwasserreservoir in den alpinen Regionen.
Beispiel Pasterze
Eine der dramatischsten Schmelzen hat bereits vor Jahrzehnten an der Pasterze eingesetzt, dem mit etwas mehr als acht Kilometer Länge größten Gletscher Österreichs und dem längsten der Ostalpen. Seit 1856 ist die Eisfläche der Pasterze von damals über dreißig Quadratkilometern auf nunmehr knapp die Hälfte geschrumpft. Mit der Pasterze eingehend auseinandergesetzt hat sich der 1965 im steirischen Leoben geborene Foto- und Videokünstler Michael Goldgruber. Goldgruber, von dem gerade erst eine feine Überblicksausstellung im Bildraum Bodensee in Bregenz zu sehen war, verweist mit seinen Bildern auf die Verletzlichkeit dieser archaischen Landschaften und ihren bedrohten, schwindenden Charakter. Neben einer Arbeit zur Pasterze aus dem Jahre 2016 („Transient Area“) ist von ihm auch ein aktuelles Bild vom Jamtal Gletscher („Bruchzone“, 2021), dem größten Gletscher der Tiroler Silvretta zu sehen. Bei aller Beklemmung, die von seinen Fotografien und Filmen ausgeht, sind für Goldgruber aber auch formale Anliegen wie etwa Komposition und Farbe wesentliche Komponenten der Werkstrategie.
Blutregen
Der aus Tirol stammende Künstler Thomas Feuerstein, in dessen Werkräumen es wie in alchemistischen Labors aussieht, hat mit „Blutregen“ eine fikitive Gebirgslandschaft entwickelt, die direkt aus der Leinwand heraus gefaltet zu sein scheint. Das „dreidimensionale Gemälde“ wurde mit Blutregenalgen und Acryl entwickelt. Die Blutregenalge ist dafür bekannt, dass sie den von ihr bewohnten Biotopen, wie etwa Teichen oder kleinen Wasserlöcheren, bei Massenentwicklungen eine spektakuläre blutrote Farbe verleiht. Dieses Phänomen wird auch als „Blutregen“ bezeichnet. Feuerstein hat die von ihm in Prozeßskulpturen kultivierte Blutregenalge mit ultraviolettem Licht bestrahlt, um solcherart gezielt einen Blutregenzustand zu evozieren. „Mittels biologischer und chemischer Prozesse schafft Feuerstein so eine Kunst-Welt von fesselnder, aber auch irritierender Schönheit,“ heisst es im informativen Begleittext zur Ausstellung.
Ein spezieller Beitrag der Schau stammt vom jungen deutschen Künsters Axel Braun, der im Spätherbst 2021 mit seiner Feldforschung direkt am Ochsentaler Gletscher begonnen und sich dazu mehrere Nächte im Winterquartier der Wiesbadener Hütte eingerichtet hat. Seine Ergebnisse sind so umfangreich, dass sie gemäß Kurator Roland Haas ausgelagert werden mussten. Seine vielschichtige installative Arbeit wird in dem an das Schrunser Heimatmuseum angegliederten Stall präsentiert.
Historische Schwarz-Weiß-Fotografien oder aus antiquarischen Büchern herausgerissene Abbildungen von alpinen Landschaften bilden den Ausgangspunkt für die Collagen und Zeichnungen der 1975 im deutschen Böblingen geborenen Künstlerin Ulrike Heydenreich. Für die Gruppenschau in der ehemaligen Lodenfabrik an der Litz hat sie die Motive der herausgetrennten Seiten eines alten Bildbandes mit Fäden überspannt. Will die Künstlerin damit Vermessungslinien setzen? Oder symbolisieren die Fäden die Aneignung der Natur durch den Menschen. Der Betrachter darf seine Mutmaßungen in alle Richtungen lenken.
Die niederländische Fotografin und Künstlerin Anouk Kruithof hat mit „Ice Cry Baby“ (2017) eine Found-Footage-Collage aus Youtube-Video-Findlingen zusammengesampelt, die von kalbenden und schmelzenden Gletschern zeugt. Das krachende Eis wird bei Kruithof dabei zum Symbol des aus den Fugen geratenen Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur.
Der Schweizer Künstler Douglas Mandry, Jahrgang 1989, experimentiert mit gebrauchten Gletschervliesen, die beim Gletscher Gurschenfirn bei Andermatt eingesetzt werden, um die Schmelze zu verzögern. Auf diese Textilien lithografiert Mandry historische Aufnahmen von Gletschern, als diese noch intakt waren. Solche Aufnahmen aus dem frühen 20. Jahrhundert fand er anfangs auf Flohmärkten und Antiquariaten, heute bezieht er sie von Stiftungen.
Bergmotiv in freie Malerei übersetzt
Weitere spannende Fotografien, Prints, Videos und Gemälde stammen von Anna Meyer, Simon Norfolk, Gabriele Rothemann, Thomas Wrede und Martin Pohl. Wobei die Berge von Letzterem keinen direkten Bezug zur Realität haben. Pohl verwendet das Motiv des Berges oder Gletschers rein assoziativ, um seine Auseinandersetzung mit der reinen Malerei mit einem scheinbaren Wiedererkennungswert zu verschränken. Es sind gestische, zumeist auf zwei Farben reduzierte Schwünge, mit denen er die Farbe mit einer Spachtel in dichter Konsistenz über die mit Acryl-Farben monochrom eingefärbten Leinwände zieht. Pohl verwendet dazu reine, mit Nitro verdünnte Pigmente, die durch warmes, streichfähiges Wachs gebunden werden. Der Südtiroler transformiert das stark besetzte Bergmotiv sozusagen in freie Malerei. Die Bemerkung „es ist eine Landschaft aus Farben, die aus dem Pinsel rinnt“, mit der der österreichische Maler Herbert Brandl seine gegenständlich-abstrakte Malerei einmal selber charakterisiert hat, könnte auch auf Pohl angewendet werden.
Vom Schmelzen und Schwinden
Mit Axel Braun, Thomas Feuerstein, Michael Goldgruber, Roland Haas, Ulrike Heydenreich, Anouk Kruithof, Douglas Mandry, Anna Meyer, Simon Norfolk, Martin Pohl, Gabriele Rothemann und Thomas Wrede
Kunstforum Montafon
Bis 15.8.
Di-Fr u. So 16-18
https://kfm.at