Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Karlheinz Pichler · 27. Mär 2014 · Ausstellung

Die eindringliche Trivialität des Alltäglichen – Bilder aus Tschechien, über vier Jahrzehnte hinweg, von Iren Stehli

Mit „So nah, so fern“ gibt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur erstmals einen Überblick über das Schaffen der 1953 in Zürich geborenen Iren Stehli. Die Fotokünstlerin setzt sich seit den 1970er-Jahren immer wieder in Form in sich geschlossener, zumeist in Schwarz-Weiß gehaltenen Fotoessays und Fotoreportagen, in denen sie ihre Aufnahmen zu dichten Stoffen verwebt, mit dem Alltag in Tschechien auseinander.

Iren Stehli, in der Limmatstadt Zürich groß geworden, entschloss sich nach der Matura anfangs der Siebzigerjahre, für ein paar Monate in die alte Heimat ihrer Mutter zu ziehen, nach Prag, um dort ihre Tschechischkenntnisse aufzufrischen. In der Goldenen Stadt verliebte sie sich nicht nur in einen Maler, sondern auch in die Stadt und die Menschen, die in ihr wohnten, und in die Melancholie des tristen Alltags im real existierenden Sozialismus. Und hier erst lernte sie das Fotografieren. In ihrer Diplomarbeit an der Akademie der musischen Künste in Prag schrieb sie 1982: „Bevor ich in die Tschechoslowakei kam, habe ich überhaupt nicht fotografiert. Zur Fotografie brachte mich eigentlich ein Zufall, die Bekanntschaft mit einer jungen Frau, in deren Dunkelkammer mein Interesse an der Fotografie erwachte.“ Aber auch alles andere faszinierte sie. „Wie die Leute sich kleideten, wie sie auftraten, die Straßen, die Läden, die Straßenbahnen, die Tanzveranstaltungen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen schienen mir viel wärmer, herzlicher... Ich fing an zu fotografieren, ohne Konzept, erkannte jedoch bald, dass ich mit den Leuten, die ich fotografierte, Kontakt brauchte.“ (zit. n.: Anna Farova: „In Bildern ausgedrückte Lebenserfahrung“, Katalog zur Ausstellung) Die Verbindung von Fotografie und Leben schien vorprogrammiert. Mit einer Porträtserie über slowakische Fahrende bestand sie in der Folge dann auch die Aufnahmeprüfung für die Prager Filmakademie, an der sie fünf Jahre lang studierte.

Libuna


In jener Zeit an der Akademie begegnete die Schweizer Fotografin in einem Studentenheim der Roma-Frau Libuna Sivakova, die dort, zusammen mit ihrer Mutter, als Reinigungsfrau beschäftigt war. Aus der Begegnung entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die von Stehli dreieinhalb Jahrzehnte lang fotografisch begleitet und dokumentiert wurde. In dieser „Langzeitstudie“, die den schlichten Titel „Libuna“ trägt und schon im Jahr 2004 auch als Buch im Scalo Verlag (Zürich) publiziert wurde, kommen die unterschiedlichsten Facetten von Stehlis fotografischer Sprache zum Tragen. Sie bewegt sich damit einerseits entlang der Reportage, andererseits lagen ihr aber innere Stimmungen und einfühlsame Porträts näher als die sachliche Information oder die rein äußere Handlung. Mit 57 Bildern steht der Zyklus „Libuna“ (1974 – 2009) denn auch im Zentrum der Ausstellung in der Fotostiftung. Der Betrachter erhält fotografischen Einblick in das bewegte Leben einer in vielem typischen Roma-Frau, die früh Kinder bekommt und in ihnen aufgeht. Die beinahe familiäre Integration der Fotografin in den Lebensalltag Libunas findet direkten Niederschlag in den Arbeiten. Die vorhandene Nähe zwischen „Modell“ und Fotografin wird regelrecht greifbar. Die Bilder wirken wie das Leben pur und erinnern in ihrer Eindringlichkeit manchmal auch an das Schaffen Nan Goldins, wenn diese das Leben ihrer alkohol- und drogensüchtigen und mitunter aidskranken Freunde aus dem vollen Geschehen heraus im Bild festhält. Erzeugt Goldin vor allem durch die spontane Unmittelbarkeit des Auslösers Betroffenheit, so ist Stehli im Gegensatz dazu auf ästhetische Qualitäten bedacht. Sie überlegt sich genau, wie sie das reale Leben ins Fotografische transferiert. Oft folgt sie dabei dem Mittel der Reduktion. Lässt vielfach auch einfach nur Gegenstände wie etwa ein Stück Wäsche am Boden oder eine Zimmerpflanze die Geschichte erzählen. Und durch den konsequenten Einsatz der Schwarz-Weiß-Technik legt sich immer wieder der Schleier der Melancholoie über die einzelnen Szenerien. Auf ungewohnte, sensible Art und Weise werden Hochs und Tiefs eines Frauenlebens festgehalten. Darüber hinaus entwerfen die detailreichen Bilder eine Geschichte des Alltags und der Populärkultur im ehemaligen Ostblock.

Hinter der Oberfläche der Abgrund


Stehlis Hang zum Statischen und zur Form des Stilllebens schlägt auch bei anderen Projekten immer wieder durch. Gerade in solchen Bildern komme zum Ausdruck, wie sehr ihr Schaffen der Tradition der tschechischen Fotografie, allen voran Josef Sudek, verbunden sei, sagt Peter Pfrunder, der die Ausstellung gemeinsam mit Iren Stehli kuratiert. Pfrunder: „Stehlis Fotografien fordern dazu heraus, sich auf ihre besondere Zeichenhaftigkeit, die scheinbare Leere, die gestalterische Strenge und ihren spröden Realismus einzulassen. Bei näherer Betrachtung tun sich hinter der sichtbaren Oberfläche Abgründe auf, wird das Spurenlesen zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise, die eng mit den an- oder abwesenden Menschen verbunden ist. In Iren Stehlis Arbeiten überlagern sich ästhetisches Interesse und soziologische Recherche, die Freude an einer reduzierten Formensprache und die psychologisch gefärbte Milieustudie.“ Im Mittelpunkt steht jedoch immer der Mensch. Immer bleibt die Fotografin einer humanistischen Tradition verbunden, die vom Respekt für das Gegenüber geleitet ist.

In Stehlis Werk finden sich sehr unterschiedliche Werkgruppen. Erzählerische Projekte wie „Sláma, der Schneider“ stehen neben konzeptuellen Serien über Straßen und Fassaden, um den „Czech Look“ in Prager Schaufenstern oder lyrischen Verdichtungen alltäglicher Situationen. Insgesamt sind in Winterthur 171 Bilder aus 12 Serien zu sehen, von postkartenkleinen bis zu einigen wenigen plakatgroßen. Im direkten Vergleich wird sichtbar, dass die Zyklen eng miteinander verknüpft sind. Stehlis Werk ist der Beweis, dass man nicht auf Sensationen aus sein muss, um zu berühren. Gerade die scheinbar simplen Nebensächlichkeiten, die sie aus dem tschechischen Alltag extrahiert, schürft kleine, unbeschreibliche Wahrheiten von Welt an die Oberfläche.

Iren Stehli – So nah, so fern
Fotostiftung Schweiz, Winterthur
Bis 25.5. 2014
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotostiftung.ch