Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Karlheinz Pichler · 31. Mär 2014 · Ausstellung

Zwischen Tradition und Manga – Art Brut aus Japan im St. Galler Museum im Lagerhaus

Das auf Art Brut und naive Kunst ausgerichtete „Museum im Lagerhaus“ stellt derzeit japanische Außenseiterkunst in einen Dialog mit ausgewählten Werken der hauseigenen Sammlung. Neben „Stars“ japanischer Art Brut, wie etwa dem Biennale-Teilnehmer Shinichi Sawada, sind auch neue Werke zu bestaunen, die bislang noch nie in Europa zu sehen waren.

An der letzten Biennale von Venedig wurde der autistische, japanische Art-Brut-Künstler Shinichi Sawada von den Medien abgefeiert wie ein Star. Eines der stacheligen Monster Sawadas hatte es damals gar auf die Titelseite des Kunstmagazins „Art“ gebracht. Nun ist für seine kuriose Ansammlung von Drachen, Stachelechsen und pickeligen Bestien eigens eine kleine Rotunde im St. Galler Museum im Lagerhaus eingerichtet worden. Sawada ist einer der großen Namen, die in der Schau „Art Brut – Japan - Schweiz“ zu bestaunen sind. Daneben werden aber auch neue Werke präsentiert, die bislang noch nie in Europa zu sehen waren: Neben frühen Arbeiten von Sawada (Autos, Busse aus Papier) auch Papierschnitte von Yuki Fujioka, Zeichnungen von Yu Fujita, Waraji Gosokuno, Shinichi Kusunoki, Yuichi Nishida, Makoto Ozu, Kenji Tomiyama und Yasushi Ushiki sowie Hefte von Takuma Uchida.

Gerade Sawada ist ein typisches Beispiel dafür, dass auch Outsider-Künstler mit Präzision arbeiten können und Sinn für Details haben. Dabei sind ihre Werke erfrischend unangepasst, radikal und doch konsequent. Und mit Leidenschaft fürs Material ausgestattet. Sawadas liebliche Monster mit ihren spitzen kleinen Zähnen und Borsten, seine Kultgegenstände mit unzähligen Verzierungen, alles aus lasiertem Ton gefertigt, sind genauso eindringlich wie von ästhetischer Haptik.

Globale Sprache


Die Ausstellung im St. Galler Art-Brut-Museum ist anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Japan zusammengestellt worden. Ziel der Schau ist es laut Organisatoren, einen Dialog zwischen den Outsider-Welten Japans und der Schweiz zu eröffnen, aber auch der Frage nachzugehen, ob es sich bei Art Brut um eine Art "global language" handelt, ob sich die japanische von europäischer Art Brut grundsätzlich unterscheidet. Die Zusammenstellung in St. Gallen legt einige schöne Parallelen frei. So ist etwa offenkundig, dass sich unabhängig vom kulturellen Hintergrund Asiens oder Europas Maschinenträume und technische Systeme in künstlerischen Arbeiten der Art Brut immer wieder durchsetzen. Bevor er sich dem Ton zuwendete, baute etwa Sawada detailgetreue Autos und Busse aus Papier, ebenso wie Nobuo Mizutani Papierzüge der realen Eisenbahn nachbaut, während Hidenori Motooka die Frontansicht aller ihm bekannten Züge ‚porträtiert‘.

Indem das Museum im Lagerhaus Beispiele aus der eigenen Sammlung von Schweizer Art-Brut-Kunst japanische direkt gegenüberstellt, werden Analogien etwa in der iterativ-seriellen Anordnung von Motivketten, in der Abstraktion und Plakativität der Farbwahl, oder in der filigranen Auslotung ornamentaler Bildstrukturen evident. Verwiesen sei hier etwa auf Matsumoto Hironobu neben Alfred Lenzinger, Shibata Takako neben Hans Schärer oder Norimitsu Kokubo neben Hedi Zuber.

Unter dem Einfluss künstlerischer Traditionen


Natürlich schaffen japanische Künstler auch unter dem Einfluss künstlerischer Traditionen. So stehen nicht nur Shinichi Sawadas Arbeiten in der Tradition der Shigaraki Brennöfen und ihrer historischen Keramikproduktion, sondern auch Masaaki Oe fertigt für sich in einer Werkstatt kleine Figuren aus Ton, und zudem arbeitet er in einer lokalen Keramikfabrik in Shigaraki. Textiles Arbeiten ist ebenfalls eine alte japanische Tradition. Während Yumiko Kawai Kreisformen zu üppigen dreidimensionalen Objekten verstickt, ziehen sich feine Linien durch Toyo Haginos oft geometrisch anmutende Stickarbeiten, die jedoch auch figürliche Darstellungen, wie beispielsweise eine Katze, umreißen können. Ihr linearer Charakter und das Arbeiten in den bevorzugten Farben Blau und Weiß verweist auf die traditionelle Sashiko-Sticktechnik. Und direkt von der Kalligrafie leiten sich die Schriftgrafiken von Yuichi Saito ab, wenngleich man ihn nicht als Kalligrafen im klassischen Sinne bezeichnen kann. Er wählt Zeichen aus zuvor gesehenen Fernsehtiteln und überschreibt sie unentwegt, bis sich luftig verwehte Wolkenformationen bilden – ohne zu berücksichtigen, ob die Schriftzeichen noch lesbar sind oder nicht.

Populär und aktuell


Im Land des Lächelns erfährt die Art Brut grundsätzlich eine hohe Aktualität und politische Aufmerksamkeit. Anders als in Europa, wo sich das Interesse für Art Brut aus der künstlerischen Avantgarde Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte, ist in Japan die Förderung von Art Brut ursprünglich sozial- und gesundheitspolitisch motiviert.

Die Ausstellung und der überaus informative Begleitkatalog zu den japanischen KünstlerInnen sind laut Museumsangaben in enger Kooperation mit der Social Welfare Organization Aiseikai, Tokyo, der Kuratorin Mizue Kobayashi und Team entstanden.

 

Art Brut – Japan – Schweiz
Museum im Lagerhaus, St. Gallen
Bis 9. November 2014
Di-Fr 14–18, Sa, So, Fe 12–17
www.museumimlagerhaus.ch

Begleitprogramm:
Sonntag, 27.4.: Puppenspiel/Performance mit dem
Outsider-Künstler Saï Kijima
Sonntag, 18.5., 14–16 Uhr: Kalligrafie-Workshop mit 
der Kalligrafin Chikako Fukami Thomsen 
Sonntag, 24.8., 15 Uhr: KKK – Kunst-Kaffee-Kuchen 
mit japanischer Fantasy. Lesung von Bettina Bellmont, 
„Das Schweigen des Schnees“ 
Freitag/Samstag, 17./18.10.: Internationales Symposium  
„Art Brut – Japan – Schweiz“ in Zusammenarbeit mit 
der Universität Zürich, unter der Leitung von Prof. Hans 
Bjarne Thomsen und Dr. Monika Jagfeld. Ort: Kunsthistorisches 
Institut, Universität Zürich, und Museum im Lagerhaus, St.Gallen 
Montag, 20.10., 18 Uhr: „Art Brut Japonais: ein eigener 
Stil der Art Brut?“ (Vortrag von Monika Jagfeld im Rahmen 
der öffentlichen Vortragsreihe der Universität St.Gallen)