Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Karlheinz Pichler · 24. Apr 2012 · Ausstellung

100 Blumen, 100 Ideen und Gedanken – Zu den stählernen Lotosblumen von Not Vital, die derzeit den Kunstraum Dornbirn besetzen

Unter dem Titel „Lasst 100 Blumen blühen“ präsentiert der Kunstraum Dornbirn derzeit eine monumentale Installation des Graubündner Künstlers Not Vital. Sie besteht aus 100 geschlossenen Lotosblüten aus poliertem Edelstahl, von denen jede einzelne 307 x 50 x 50 cm groß ist.

Not Vital verbringt seit 2008 alljährlich mehrere Monate in seinem Atelier im Pekinger Stadtbezirk Coachangdi. Wie er selbst sagt, lebt und arbeitet er dort in unmittelbarer Nachbarschaft zum weltbekannten chinesischen Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei, mit dem er denn auch befreundet sei. Vital, im unterengadinischen ländlichen Sent in einer Rätoromanisch sprechenden Holzhändlerfamilie ohne Fernseher aufgewachsen, sieht in seinem Werk durchaus Berührungspunkte zu Ai Weiwei. Offenkundig ist, dass beide Kunstschaffende ein großes Interesse an Architektur an den Tag legen sowie eine Vorliebe zu großen, ja monumentalen Installationen hegen. So erinnern die 100 geschlossenen Lotosblüten in Dornbirn durchaus an die grandiosen 100 Millionen Sonnenblumenkerne aus Keramik, mit denen Ai Weiwei die Tate Modern in London befüllte.

Handwerkliche Perfektion

Als Not Vital erstmals nach China kam, kaufte er fünf Lotosblumen. Diese gaben ihm den Anstoß, die Blumen stark vergrößert in Stahl treiben zu lassen. Für die adäquate Umsetzung fand er vor Ort in „seinem“ Pekinger Quartier die richtigen Leute: lauter kunstfertige und kreative Edelstahlhandwerker, die das Edelstahlblech von Hand bearbeiteten und jede einzelne Lotosblume zu einem perfekten Einzelstück werden ließen. Der komplizierte, mühevolle und langwierige Prozess der Herstellung ist ein wichtiger Bestandteil des Werks und bedingt die besonders glatt polierte, spiegelnde Oberfläche der Blumen. An einer Blume arbeiteten jeweils fünf bis zehn Handwerker. Jeder war für ein Stück verantwortlich. Diese wurden am Schluss zusammengeschweißt, ohne dass nur die kleinste Schweißnaht zu erkennen wäre.

Vieldeutige Metapher

Betritt man die an und für sich groß dimensionierte Industriehalle des Kunstraums Dornbirn, so scheint die Installation fast ein Zuviel des Guten zu sein. Der Raum und die Blütenformation beengen sich gegenseitig, drücken aufeinander. Dennoch besticht Not Vitals Werk aufgrund der monströsen Anzahl der Blumen und eben durch die handwerkliche Perfektion in der Ausfertigung jeder einzelnen. Titel und Objekte liefern auch genug Anknüpfungspunkte für inhaltliche Deutungen. Der Titel der Ausstellung, „Lasst hundert Blumen blühen", bezieht sich auf einen Propagandaslogan Mao Zedongs (1893-1976), jenes ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas und Staatschefs, von dem sich der Maoismus ableitet. Mao forderte mit diesem Spruch 1956 mehr Gedanken- und Diskussionsfreiheit in der Partei ein. Der, von ihm selbst ausgelösten, Kritik begegnete er mit einer brutalen Unterdrückungskampagne, die in der Folge 520.000 Opfer forderte. Für dieses historische Geschehen findet Not Vital in Form seiner geschlossenen Lotosblüten starke und schlüssige Metaphern. Das gilt sowohl für die spezifisch zeit- und ortsbezogenen Aspekte des Themas wie für dessen allgemeine Ebene von Macht, Machtmissbrauch und Unterdrückung. Stichwort wiederum Ai Weiwei. Steht der offene Lotos als östliches Symbol für geistige Freiheit und Entfaltung, so entspricht dessen geschlossene Form demnach dessen Gegenteil.

So wie die Lotosblumen im Kunstraum Dornbirn ausgelegt sind, erscheinen sie auch wie ein geschnittenes Blumenfeld und thematisieren das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod, Schönheit und Vergänglichkeit. Der Bezug zur Natur wird hergestellt.

Der politische Aspekt, der im Titel angedeutet wird, ist für Vital wichtig, um dem Betrachter assoziative Impulse zu liefern. Er will aber nicht direkt auf das Politische zeigen, was in der Installation lesbar ist, muss jeder für sich entscheiden.

Lotosblumen im öffentlichen Raum

Die stark vergrößerte Form der Lotosblumen scheint auch anderweitig die Phantasie zu beflügeln. So hat etwa der bekannte Künstler Norbert Pümpel im Rahmen der Vernissage vorgeschlagen, das gegenwärtige Hickhack um die 100 „Eisenmänner“, die im Zuge von Antony Gormleys Projekt „Horizon Field“ in den hochalpinen Regionen Vorarlbergs postiert sind, einfach dadurch zu lösen, indem man sie durch die Lotusblüten ersetzt. Eine feine Idee, auch wenn sie nicht tierisch ernst gemeint ist.

Dass sich die geschlossenen Lotosblüten aus poliertem Edelstahl jedenfalls auch im öffentlichen Raum gut behaupten können, beweist die Stadt Chur. Sie hat drei solcher Blumen, allerdings in einer sieben Meter langen Ausführung, erworben und als Skulptur „3 Lotus“ auf dem Kreisel des Alexanderplatzes in der Nähe des Bahnhofes Chur aufgestellt. Allerdings waren die drei Stahlblumen nicht gerade billig. 250.000 Franken mussten dafür auf den Tisch geblättert werden. Wobei die Stadt Chur und der Kanton Graubünden jeweils 100.000 Franken bezahlt haben und weitere 50.000 Franken von einem Churer Galeristen gesponsert wurden.

Not Vital: „Lasst 100 Blumen blühen"
Kunstraum Dornbirn
Bis 3. Juni 2012
Di-So 10-18
www.kunstraumdornbirn.at