Neu in den Kinos: „Challengers – Rivalen“ (Foto: MGM)
Karlheinz Pichler · 29. Apr 2012 · Ausstellung

Das „Böse“ und das „Banale“, die Gegenwart und ihre Veränderungen ins Bild setzen: Diane Arbus und Jean-Luc Cramatte im Fotozentrum Winterthur

Die Fotos der US-amerikanischen Fotografin Diane Arbus konfrontieren uns auch heute noch – 42 Jahre nach ihrem Selbstmord – mit einem verstörenden, subversiven Blick auf den Menschen. Der aus dem Jura stammende Jean-Luc Cramatte wiederum beschäftigt sich in seinen fotografischen Recherchen mit regionalen und kulturellen Identitäten. Das Fotomuseum und die Fotostiftung Schweiz in Winterthur präsentieren die beiden unterschiedlichen Positionen aus unterschiedlichen Zeiten anhand zweier sehenswerter Ausstellungen.

Das Fotomuseum gibt anhand von 200 ausgewählten Fotografien einen guten Einblick in das eigenwillige Werk einer der wohl interessantesten und wichtigsten Fotokünstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Diane Arbus (1923 – 1971) gelang es, Dinge ins Bild zu setzen, die man üblicherweise kaum sieht. Entweder weil sie zu banal und alltäglich sind, oder aber weil man sie nicht sehen mag, da sie die Schattenseiten des Daseins thematisieren und vielfach noch heute als unangenehm oder schockierend empfunden werden. Speziell mit ihren schonungslos hässlichen" Porträts von Reichen und Armen, von Prominenten und Normalbürgern, vor allem aber von gesellschaftlichen Außenseitern wie Transvestiten, Kleinwüchsigen, Prostituierten und Tätowierten, Zwergen und Behinderten, die ihre schwarz-weißen Bildwelten bevölkerten, schürte sie die Betroffenheit.

Dabei war dies nicht immer so. In ein begütertes Elternhaus hineingeboren, feierte sie zunächst mit glamouröser Werbe- und Modefotografie, die in Hochglanzmagazinen veröffentlicht wurde, große Erfolge. Erst nach der Trennung von ihrem Mann Allan und dem gemeinsamen Modestudio legte sie ihre Fokus auf gesellschaftlichen Außenseiter und setzte mit souveränen Bildern neue ästhetische Maßstäbe. Als Klassiker der modernen Fotografie erzählen sie von Entfremdung, Isolation und irritierender Sexualität.

„Ich will das Böse fotografieren“

Angetrieben von der Leidenschaft, bis in das Innenleben von Menschen vorzudringen und das Geheimnis ihrer Existenz freizuschaufeln, stieß Arbus bis ins Reich der Freaks" vor. Selbst überaus exzentrisch gepolt, suchte sie die Lebensräume der Penner und Transvestiten, Nutten und Nudisten auf. Extreme zogen sie an. Sie besuchte Männergefängnisse und Bordelle, Leichenschauhäuser und Jahrmärkte und fixierte schonungslos das Gegenbild zur „schönen Welt“ mit der Kamera. Ich will das Böse fotografieren", bekannte sie. Die Angst, die sie dabei empfand, regte sie zusätzlich an.

Die Fotografin russisch-jüdischer Abstammung ist aber nicht nur die Fotografin der Freaks. Mit einem Bild von eineiigen Zwillingen hat sie eine Ikone geschaffen, die etwa Stanley Kubrick inspirierte, den Film The Shining" zu drehen. Die Bilder von Arbus provozierten immer wieder Kritiken. Der Schriftsteller Norman Mailer sagte einmal, in ihren Händen werde eine Kamera zur Handgranate in den Händen eines Kindes. Was eben auch eines ihrer verstörenden Motive war. Diane Arbus, die immer wieder von starken depressiven Anfällen gepackt wurde, setzte selbst ein markantes Zitat, das ihr eigenes Schaffen auf den Punkt bringt: Irgendwie glaube ich schon, dass ich ein besonderes Gespür für Sachen habe. Das ist schwer greifbar und ist mir auch ein bisschen peinlich, aber ich glaube, es gibt Dinge, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografiert hätte."

Fotografische Langzeitrecherchen

Lenkt also das Fotomuseum den Blick zurück auf den ungewöhnlichen, schwarz-weißen Bilderkosmos einer ungewöhnlichen Künstlerin, so widmet sich die dem Fotomuseum schräg gegenüber angesiedelte Fotostiftung dem Schaffen des 1959 geborenen und in Fribourg lebenden Jean-Luc Cramatte. Dieser denkt in Langzeitprojekten. Seit den 1990er-Jahren führt er fotografische Recherchen zu bestimmten Einrichtungen oder Wirtschaftszweigen durch, die am Verschwinden sind. So „inventarisierte“ er sozusagen mit seiner Kamera ein Wohnheim in Fribourg, Postämter in der Schweiz, eine medizinische Einrichtung in Lausanne oder die Landwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung. Großformatig und in Farbe dokumentiert der Autodidakt beispielsweise windschiefe Dächer von Bauernhöfen oder setzt Ställe ins Bild, die von verwitterten und rostigen landwirtschaftlichen Geräten und Schrott zugestellt sind, und verweist damit durchaus ästhetisch schön auf das Siechtum der Schweizer Landwirtschaft.

Sein Vorgehen lässt die Grenzen zwischen dokumentarisch, autonom, kritisch und lustvoll verwischen, wobei er neben eigenem auch gesammeltes Fotomaterial benutzt. Die Fotostiftung fasst also eine Auswahl von Cramattes wichtigsten Bestandsaufnahmen der vergangenen zwei Jahrzehnte zusammen. Aussserdem geht die Ausstellung auch auf die Bemühungen des Fotografen ein, das kollektive Gedächtnis zu fördern. In der von Cramatte mitbegründeten Enquête photographique fribourgeoise" werden jüngere FotografInnen damit beauftragt, den Wandel des Alltags im Kanton Fribourg festzuhalten. Die Resultate werden in der Fotostiftung in einem Raum im Raum in Form einer Projektion präsentiert.

 

Diane Arbus
Fotomuseum Winterthur
Bis 28.5.2012
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotomuseum.ch

Jean-Luc Cramatte: Inventar
Fotostiftung Schweiz
Bis 28.5.2012
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotostiftung.ch