Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Niedermair · 16. Nov 2011 · Literatur

Unsichtbare Stadt – Erkundungen und Betrachtungen in Dornbirn

„Es hätte auch eine andere Stadt sein können“, schreiben die Autoren im Vorwort des kürzlich bei Residenz erschienenen Buches UNSICHTBARE STADT. „Dornbirn war naheliegend.“ Für das Buch legen die Autoren, der Architekt und Architekturpublizist Robert Fabach, der Archivar und Historiker Werner Matt sowie der Fotokünstler und Historiker Arno Gisinger „Schichten und Geschichten“ von vierzehn Bauwerken in Dornbirn frei, die Silvia Wasner in graphisch beeindruckender Buchgestaltung inszeniert.

„Zu Beginn des Projekts ‚Unsichtbare Stadt‘ stand das Paradox des Archivars, der den Reichtum seiner Archive und der Stadt, die sie beschreiben, als riesige Unsichtbarkeit für Andere erleben muss.“ Die Autoren beziehen sich auf zwei methodische Pfeiler, den schwedischen Autor und Historiker Sven Lindquist, der in den späten 1970er Jahren die „Grabe wo du stehst!“-Bewegung initiierte, die sich auf die Bedeutung lokaler Geschichtserzählungen bezieht, sowie den Basler Lucius Burckhardt, der in den 1980ern seine „Spaziergangswissenschaften“ entwickelte und „für ein Verständnis von Raum, das nicht in ein ‚OrtsBild‘ mündet, sondern die Methodik des Spaziergangs nützt und in eine Synthese von Schritten und Eindrücken führt“ plädierte.

Damit ist die Herangehensweise und Methodologie für das Lesen der Stadt grundgelegt. Dornbirn. Es könnte, wie gesagt, auch eine andere Stadt sein. Während Matt die historisch-soziologische Dimension der Bauwerke, deren soziales Interieur beschreibt, nimmt Fabach die Gebäudebiographie in der jeweiligen historischen Entwicklung, der handwerklich-baulichen Traditionslinien und deren Nutzungsgeschichte, bzw. –wandel, in den Fokus. „Das Unsichtbare ist eine Provokation des aufgeklärten und modernen Geistes. Etwas ist da und doch nicht da. Es hat Potenzial, zeigt Wirkung, aber entzieht sich dem Überblick.“ Heißt es im Vorwort.

Auswahl der Objekte

Bei den 14 ausgewählten Projekten gibt es eine inhaltliche und eine formale Ebene. Die inhaltliche wurde teilweise bereits in der Ausstellung „Unsichtbare Stadt“ im letzten Jahr am vai in der Marktstraße gezeigt. Mit dem Buchprojekt haben die Autoren vor drei Jahren begonnen. Die ursprüngliche Idee entstand aus einer sehr auf die Stadt Dornbirn bezogenen Auseinandersetzung, eine Idee von Werner Matt, die Stadt umsichtig zu kartographieren, dabei jedoch nicht nur historisch zu arbeiten, sondern aus der Gegenwart in die Historie zurückzugehen, anhand einer textlichen und einer bildlichen Ebene. Entstanden sind zwei ganz verschiedene Textkörper, die sich aus zwei unterschiedlichen methodischen Ansätzen herleiten, der Historiker Werner Matt mit Schwerpunkt auf die Hausgeschichte und die historischen Hintergründe und Robert Fabach, selbst Architekt und, ebenso wie Matt, ein hervorragender essayistischer Autor, der sehr frei an die Sache herangeht.

Spaziergänge durch das Buch

Die dritte Ebene sind die Bilder des Künstlerfotografen und Historikers Arno Gisinger. So wie der Ausstellungsraum ein Raum für Bilder und Texte war, ist das Buch jetzt der Ausstellungsraum mit eigenen Gesetzlichkeiten und formalen Vorgaben. Die nächste, vierte Ebene, ist die von Silvia Wasner eingerichtete Buchgestaltung. Mit zurückhaltender, unauffällig feingliedriger Präzision lenkt die Designerin die Spaziergänge durch das Buch. Auf den ersten Blick sind die Texte an manchen Stellen nicht einfach zu lesen, sie verlangen ein genaues Hinschauen, um die wie Wasserzeichen ins Buch eingelassenen Typoskripte, die verschriftlichten Biographien der Häuser zu „lesen“. Silvia Wasner übersetzt damit auf subtile Weise eigentlich zwei Zugänge mit zwei unterschiedlichen Grautönen für die Texte, wobei gleichzeitig jeweils ein Auftaktbild pro Objekt mit einer Außenansicht in einer Klappseite verpackt ist. Die Verschriftung der Texte ist sehr zurückhaltend und gibt den Objekten Platz zum Atmen.

In der Gestaltung gibt es mehrere Kunstgriffe, dieses Spiel von sichtbar/unsichtbar zu deklinieren und zu variieren. Es geht um die Klappseiten, auf denen sich das Gebäude erst durch das Umklappen der Seite erschließt, ein Effekt, der im Durchblättern funktioniert. Diese 14 Objekte sind in 14 unterschiedliche Corpi gegliedert; wenn man das Buch mit der linken Hand und dem Daumen durchblättert, ist es ein Textbuch, in dem kein einziges Bild auftaucht. Welch wunderbare Einrichtung, staunt der Leser, beim Daumenkino-Blättern, das in der umgekehrten Richtung als nur Bildbuch funktioniert.

Doppeltes Daumenkino

Das doppelte Daumenkino hat mit der technischen Lösung der Klappseiten zu tun sowie mit der sehr rigiden Form, dass jedes Objekt, ob es jetzt historisch bedeutsamer oder weniger bedeutend war, dieselbe Seitenzahl und Einteilung sowie dieselbe buchbinderische Kunst zugewiesen bekommt. Auffallend sind weiters das Format 21/17 und die einladend haptische Qualität. Damit ist es kein touristisches Bilderbuch für die Manteltasche oder Jacke der Stadtspaziergänger und erst sekundär ist das Buch ein Architekturguide, der weder den Dornbirner Stadtführer ersetzen soll noch den Bildband Dornbirn. Es bleibt handlich und gewichtig, mit Hardcover ohne Bild auf der Außenseite, nur mit Prägung und einem Naturpapier versehen.

Während der Schriftzug UNSICHTBARE STADT ins Cover eingeprägt ist, kommen die Bilder im Innenleben des Buches aus dem Papier heraus bzw. erscheinen wie eingebettet. Im letzten Teil des Buches gibt es einen Materialienteil, als Appendix, in dem nochmals für jedes einzelne Objekt eine Doppelseite mit Quellenmaterial sehr schön vor Augen führt, dass die Arbeit des Essayisten und des Historikers sich auf Pläne, Fotos, Fotokopien und Gespräche bezieht, die auf 14 Doppelseiten arrangiert und komponiert worden sind. Hier kommen die Bildlegenden für das Bildmaterial zum Tragen, teilweise auch als Symbolbilder, weil nicht alle Archivalien da sind, dennoch zeigen sie das Handwerk des Essayisten und des Historikers, die sich auf Quellen beziehen. All dies ist handwerklich sehr solide gearbeitet und entspricht, die Poesie des Spaziergangs unterstützend, höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen.

Design ist unsichtbar

Lucius Burckhardt, der Basler Sozialwissenschafter, schreibt in „Die Kinder fressen ihre Revolution“ (1985) von der sozialen Organisiertheit des Lebens in der Stadt; mit einem solchen Fokus auf die unsichtbare Stadt wurden für den Band ganz unterschiedliche Objekte und Phänomene ausgewählt, vom Siedlungsprojekt Brehmenmahd über das Rathaus, bis hin zu in ihrer Substanz renovierten Häusern im Hatlerdorf – schön zu lesen, finde ich nebenbei gesagt, sind die Erinnerungen Nolde Lugers rund um den Hatler Brunnen, Seite 55-57 –, von Industriearealbauten wie dem Rhombergareal bis hin zur Stadtpfarrkirche.  Von der Promenadologie, vom Essayistischen wie auch vom Bildlichen her gesehen, gab es neben dem Wunsch repräsentativ zu sein eine lange Liste möglicher Bauten, die sich schließlich auf 14 Modellbeispiele reduzierten, die auch repräsentativ für das Gemeinwesen sind. Alle Gebäude oder Bauten sind zwar austauschbar aber unverkennbar mit Dornbirn verbunden.

Es ist ein spaziergängerisches Statement ganz im Sinne Robert Walsers, des Spaziergängers schlechthin, der übrigens auf seinen unzähligen Zu-Fuß-Gängen drüben am Schweizer Berg öfters herüberschaute, zu sagen, ein Bauernhaus ist nicht weniger und nicht mehr bedeutend als eine Kirche, und eine Kirche ist nicht mehr und weniger bedeutend per se als ein Industriegelände. Das hängt natürlich mit diesem spezifischen Blick zusammen, den man auf ein Bauwerk wirft, das Unsichtbare hat mit dem Innen und Außen zu tun. Und auch mit der Frage, was fehlt. Unsichtbar kann in die verschiedensten Richtungen interpretiert werden, unsichtbar, weil ich es nicht sehe oder nicht sehen kann, weil ich auf einem Auge blind bin, unsichtbar, weil es versteckt ist, oder weil ich sonst nicht hineinkomme. Die Klappseiten in dieser formalen Strenge regulieren den Außenaspekt und machen beim Umblättern bewusst, dass ich als Leser in die Innenräume hineinkomme und damit auch eine gewisse Schwelle zur Intimität überschreite, etwas, das normalerweise nicht für jedermann sichtbar ist und sichtbar wird.

Fensterblick mit unscheinbaren Details

Die Fotos kommen völlig unprätentiös im Duktus, in ihrem Momentum daher. Jedes hat etwas ganz Spezifisches im Sinne von Roland Barthes, jenes Punktum, das ein wunderbares kleines Detail einfängt, die das Bild des Bauobjektes, wie bei einem Spaziergang lesen lassen. Das Spezifische dieser Bildsprache ist, dass diese Bilder geleitet werden vom Gestus ‚Schau her, ich habe es so gesehen, ich bin davor gestanden,‘ erörtert Arno Gisinger Roland Barthes, ‚ich bin promenadologisch durch diese Straße gegangen, habe an bestimmten Stellen Halt gemacht, und an diesen Stellen habe ich geschaut und ein kleines Fenster aufgemacht, durch das der Leser nun eingeladen ist, selbst zu schauen.‘ Dieser  Fensterblick, der bewusst auch alltägliche Phänomene, Spaziergänger und unscheinbare Details mit einbezieht, lässt die Bildkomposition gleichermaßen streng und  einfach gehalten erscheinen. Die Innenaufnahmen entsagen sich jedes voyeuristischen Blicks. Das ist eine enorme Kunst und hat mit Respekt und dem Gestus zu tun, dass es hinter den Bildern und Texten intensive Auseinandersetzungen mit den BewohnerInnen gab. 

Das Buch als Gesamtkunstwerk

Der Raum des Buches gibt den Texten und den Bildern Platz. Der Druck lässt alle Details wie in einem Faksimile erscheinen, wo die Farben herunter genommen und die Bilder in einer unverklärten Weise hell sind, dass sie wie aus dem Papier herauskommen und erst bei genauerem Hinblicken beginnen Bilder zu werden, das heißt aus diesem Papier auftauchen. In Summe zeigt diese beachtliche Promenadologie, die so viel Lust aufs Spazierengehen macht, eine Bestandsaufnahme der Stadt, die es in dieser Weise und Einzigartigkeit nur in Dornbirn gibt, allerdings nicht im Sinne eines Dokumentationsbandes. Vielmehr  soll der Raum des Buches etwas für sich Eigenes entwickeln, eine Art Buch-Stadt ausfalten, Lesen und Schauen sollen animieren, das vor sich Liegende aufzulesen und in die Betrachtung zu nehmen, ohne Spazierstock eine spezifisch eigene Wahrnehmung entfalten, die Augen anlehnen an die Bild-Text-Stadt. Im Buch ist das Schauen dialogisch angelegt, ich schaue, und es schaut mich an. Ich schaue und ich lese.

 

Robert Fabach, Arno Gisinger, Werner Matt: UNSICHTBARE STADT Erkundungen und Betrachtungen, Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg 2011, ISBN 978 3 7017 3239 5, Euro 34,90

Buchpräsentation: vai, Marktstraße 33, Dornbirn, 25.11.2011, 19 Uhr