Zeitaktuelle Problemfelder im Wechselspiel zwischen Realraum und konstruiertem Raum
Medienkunst von Ruth Schnell im „Kunst | Haus 2226“ in Lustenau
Die 1956 in Feldkirch geborene Medienkünstlerin Ruth Schnell inszeniert seit mehr als 40 Jahren hybride Raumerfahrungen, die das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion erforschen. Die Bezugnahme auf gesellschafts- und weltpolitische Fragestellungen ist tief in ihre künstlerische Herangehensweise eingeschrieben. Im Rahmen ihrer Werkschau „All Targets Defined“ (Alle Ziele definiert) zeigt sie in den Ausstellungsräumen im Baumschlager-Eberle-Gebäude 2226 im Lustenauer Millennium Park neun Installationen und Wandarbeiten. Diese sind in den beiden Ausstellungsräumen thematisch gruppiert und verhandeln Themenfelder wie Migration und Verdrängungsmechanismen, Verantwortung und Klimakrise sowie Wissenschaft und Technologie.
Spektakulärer Blickfang der Ausstellung ist die ganz neue Installation „Duck and Cover“, die aus fünf venezianischen Spiegeln besteht. Den Titel dieser Arbeit hat die Künstlerin einem Lehrfilm der US-Zivilverteidigungsbehörde von 1951 entnommen, der Kindern das richtige Verhalten bei einem Atomangriff vermitteln sollte. Formal fügen sich hier fünf konvex/konkave Spiegel zu einer Anordnung im Raum. Mit den leicht durchscheinenden venezianischen Spiegeln setzt Ruth Schnell ihre Auseinandersetzung mit Spiegelformen, Verzerrungen und dem Wechselspiel zwischen Realraum und Raumkonstruktion fort. Die Spiegel sind auf den konvexen Seiten mit prägnanten, zusammenfassenden Headlines beschriftet, während die konkaven Seiten kurze Statements zu Aspekten der Klimakrise und zum menschlichen Umgang mit den Folgen des eigenen Handelns enthalten.
Raum verbergen und sichtbar machen
Mit venezianischen Spiegeln operiert Schnell auch bei der Arbeit „Lavender“. Hier sind es zwei konvex/konkave Spiegel, die Raum herstellen, verfremden und bei der Annäherung des Betrachters die enthaltene Information preisgeben. Laut der Künstlerin steht „Lavender“ steht dabei nicht nur für die Pflanze, sondern auch für ein gleichnamiges, KI-gestütztes System, das vor allem in der ersten Phase des Gaza-Kriegs 2023 von der israelischen Armee eingesetzt wurde. Die Betrachtenden werden als Spiegelbilder selbst Teil der Installation. Die konvexe Seite vergrößert den Blickwinkel (wie etwa bei einem Verkehrsspiegel), die konkave Seite verfremdet das Spiegelbild, das bis zur Annäherung an den Brennpunkt auf dem Kopf steht.
Mit der Diskrepanz zwischen Forschung und Technologieentwicklung sowie ihrer Dienstbarmachung für militärische Zwecke setzt sich Ruth Schnell schon lange auseinander. Ein sehr eindringliches Beispiel dafür ist die Mixed-Reality-Installation „Combat Science Augmented II“ (2022). Diese Arbeit lässt sich nur mit aktiver Mithilfe des Betrachters erfassen. Erst unter Zuhilfenahme eines Mixed-Reality-Headsets entfalten sich die visuellen Szenen und dreidimensionalen Schriftbilder inmitten der anderen Exponate. Sie sollen laut der Künstlerin „vom schmalen Grat zwischen Forschung als Gestaltungsraum für einen Fortschritt der Menschheit und dem Einsatz der Erkenntnisse zur Entwicklung verheerender Waffensysteme“ veranschaulichen.
Wenn die Flut kommt
In mehreren weiteren installativen Medienstücken rückt die Künstlerin Herausforderungen der Gegenwart zu Leibe, die den Menschen existentiell bedrohen. Migration und Menschenrechte vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen im Globalen Süden sind etwa Thema von „Flood“. Diese in Zusammenarbeit mit Martin Kusch entstandene dynamische Projektion wurde ursprünglich für die Fassade der Alten Dogana in Feldkirch konzipiert und im Rahmen des Spotlight Festivals 2022 erstmals aufgeführt. Erweiterte Versionen wurden für die Lichtstadt Feldkirch 2023 und die Eröffnung der Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl/Salzkammergut 2024 erarbeitet. In Lustenau ist eine Version für Monitore zu sehen.
Auch Geschichtliches spielt eine Rolle. Im Rahmen des SivrettAteliers untersuchte sie das Schicksal von Zwangsarbeitern der NS-Zeit beim Bau der Silvretta-Staumauer. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter errichteten die Anlage unter unmenschlichen Bedingungen. Der Fortschritt der einen wurde mit dem Tod der anderen bezahlt. Die Künstlerin sammelte Steine, die die Grasnarbe am Fuße der Stauermauer unterbrachen, und vergoldete einige dieser Felsstücke im Atelier. Sie wurden in Ausstellungen präsentiert und teils wieder im vergoldeten Zustand wieder in die Landschaft zurückgesetzt. Ein skulpturales Golden Nugget sowie ein Fotoprint zeugen von dieser Auseinandersetzung.
Ebenfalls auf die Silvretta bezieht sich die Arbeit „Camouflage“. Die an Fahnenmasten befestigten Nationalflaggen entlang des Busparkplatzes an der Bielerhöhe tauschte Ruth Schnell ebenfalls 2012 temporär gegen monochrome quarzgrüne Banner aus. Schnell: „Mit den Nationalflaggen verbundene territoriale Ansprüche wurden symbolisch neutralisiert, die grünen Banner verschmolzen mit der Farbpalette von Bergen, alpiner Flora und Silvrettasee.“ Auf dem Foto-Print ist im Hintergrund der Gletscher der Silvretta-Gebirgsgruppe zu sehen, der in den vergangenen Jahren kontinuierlich geschrumpft ist.
Ruth Schnell zählt seit langem zu den wichtisten Positionen der östereichischen Medienkunst. Ihre vielfach ausgezeichneten Arbeiten werden international ausgestellt. 1995 vertrat sie Österreich bei der 46. Biennale von Venedig. Schnell lehrte ab 1987 als Dozentin für „Digitale Kunst“ an der Universität für angewandte Kunst Wien, an der sie 2009 habilitierte. Von 2011 bis 2023 leitete sie als Universitätsprofessorin die Abteilung „Digitale Kunst“, die ursprünglich 1988 von Peter Weibel als „Institut Visuelle Mediengestaltung“ gegründet wurde. Vor kurzem ist bei De Gruyter unter dem Titel „Mirrors of the Unseen – Ruth Schnell Workbook“ eine umfassende Monografie zum Schaffen dieser Künstlerin erschienen.
Ruth Schnell: All Targets Definded
bis Ende September 2024
Mo–Fr 9–17 Uhr
Kunst | Haus 2226, Baumschlager Eberle Architekten
Millennium Park 20, 6890 Lustenau