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Raphael Einetter · 14. Okt 2024 · Literatur

Wie Landschaft und Essen unsere Region präg(t)en

Erkundungen zur Geschichte und Kultur des Alpenlands Vorarlberg von Bernhard Tschofen

Was macht Vorarlberg zum Alpenland und wie kam es dazu? Dieser Fragestellung näherte sich Bernhard Tschofen, seines Zeichens Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich, in den letzten Jahren bereits mehrfach anhand ganz unterschiedlicher Aspekte an.

Acht seiner zwischen 2012 und 2022 in verschiedenen Sammelbänden erschienenen Beiträge wurden im nun unlängst erschienen Werk neu arrangiert und vier Themenblöcken zugeordnet. Jeweils zwei Essays geben somit in den Bereichen „Landschaftliches“, „Handfestes“, „Schmackhaftes“ und „Zugehöriges“ Denkanstöße und identifizieren etwa den Piz Buin, Beispiele der alpenländischen Küche oder das Älplertum als Indikatoren für das (von Bergen geprägte) Vorarlberger Selbstbild. Im September präsentierte Bernhard Tschofen seine Publikation auch im vorarlberg museum.

Historisch dimensionierte Gegenwart

Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus blickt der Autor auf das alltägliche Leben und fokussiert sich dabei, seinen einführenden Worten zufolge, besonders auf die „historisch dimensionierte Gegenwart“. Somit stellt er nicht primär die Geschichte Vorarlbergs in den Vordergrund, sondern sucht nach jenen Entwicklungen, die den alpenländischen Charakter in der Wahrnehmung des Bundeslandes manifestierten. Prägend sei dabei bereits sehr früh die 1865 erfolgte Erstbesteigung des höchsten Vorarlberger Gipfels gewesen, die in eine Zeit fiel, als das Land gerade erst seit vier Jahren über einen eigenen Landtag verfügte. Wirklich eigenständig wurde Vorarlberg zwar erst nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches, doch sei es dadurch für das Selbstverständnis in den 1860er Jahren umso wichtiger gewesen, eine landeseigene höchste Erhebung benennen zu können. Dieser Berg, der 1866 auch erstmals von einer Vorarlberger Seilschaft erklommen wurde, trug zunächst mehrere Namen und wurde etwa auch als Albuinkopf bezeichnet. In seiner Rolle als Vorarlberger „Identitätsmarker“ setzte sich der Piz Buin schließlich rasch durch und verkörpert bis in die Gegenwart seine Funktion als Gedächtnisort. Anhaltspunkte für die moderne Inszenierung des Berges findet Bernhard Tschofen nicht zuletzt in verschiedenen Fernsehformaten. Als Beispiel dient etwa eine ORF-Produktion, in der die Vorarlberger Bergführerin Angelika Haspl im Jahr 2011 gemeinsam mit dem Extrembergsteiger Gerfried Göschl den 3.312 m hohen Gipfel erklomm – prominent begleitet durch die nun Ende 2024 abtretende Generaldirektorin des Kunsthistorischen Museums und gebürtige Bregenzerin Sabine Haag.

Bauwerke in klein und groß

Ebenfalls der Kategorie „Landschaftliches“ zugeordnet wurde die Abhandlung Bernhard Tschofens zu den allerorts im Gebirge bekannten „Steinmännle“, in der er den Wandel von wichtigen Markierungen hin zu teils unerwünschten Gebilden in der Gegenwart skizziert. Dabei schlägt er erneut die Brücke zum Piz Buin, den bereits seine Erstbesteiger mit einem Steinmann schmückten und dessen Gipfel erst seit den 1930er Jahren ein Kreuz ziert. Vielfach größere Konstruktionen stehen hingegen im Zentrum einer Analyse der alpinen Tourismusbauwerke des Vorarlberger Architekten Willi F. Ramersdorfer (1922–2010). Der enorme Zuwachs des Fremdenverkehrs in den Wintermonaten (welche die Sommersaison bald deutlich überflügelten) führte zu einem gesteigerten Bedarf an Gastronomie- sowie Beherbergungsbetrieben, die im Stile Ramersdorfers ganze Regionen prägen sollten. Doch als „handfest“ betrachtet Tschofen nicht nur die baulichen Hüllen steigender Nächtigungszahlen, sondern auch die verschiedenen Kleider der Trachtenmode in Vorarlberg. Von historischen Ereignissen wie Regentenbesuchen in Bregenz oder den Gewerbeausstellungen am Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu Werbesujets in der Zwischenkriegszeit oder der Folklore während Ständestaat und NS-Zeit: Die Tracht war stets zugegen, hat aber ihren Aufschwung nicht den politischen Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre zu verdanken.

Schmackhafte Zugehörigkeit

Als keine besondere, jedenfalls eher unspektakuläre Alltagsernährung, hätte es hingegen die profane Küche der Gebirgstäler zunächst schwer gehabt sich ähnlicher Beliebtheit wie die Trachtenmode zu erfreuen. Als zu „roh und unverfeinert“ habe so manche einfache Speise gegolten, doch war eine ausdifferenzierte Zubereitung derselben auf den noch lange Zeit verwendeten offenen Herdfeuern schlichtweg nicht so ohne weiteres möglich. Wie Tschofen in Hinblick auf die (hoch-)alpinen Gegenden des Landes feststellt, musste einerseits auf einen sparsamen Holzverbrauch geachtet und andererseits zugleich ein möglichst sättigendes und kräftigendes Mahl zubereitet werden. So dominierten aus Getreide, Milch, Wasser, Fett und Schmalz bestehende Teig- und Breispeisen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts durch Kartoffeln und Mais ergänzt wurden. Der daraus, traditionell aus Maisgrieß, zubereitete Riebel gilt heute als eines jener Gerichte, dass sich inzwischen einer breiteren Beliebtheit erfreut. Ein Durchbruch, zu dem anderen Produkten wie etwa dem Sauerkäse erst verholfen werden musste. Bernhard Tschofen spürt sowohl der Geschichte der Sauerkäseproduktion als auch dessen modernen Vermarktung als „Montafoner Sura Kees“ nach und zeigt dabei anschaulich dessen Wandel hin zur regionalen Besonderheit auf. Ebenso spannend verbindet Tschofen zum Abschluss in zwei sozialwissenschaftlichen Studien die Frage der Eigen- und Fremdwahrnehmung zweier Vorarlberger Bevölkerungsgruppen: Der Suche nach „historischer und kultureller Selbstverortung“ der Walser wie auch das Paradoxon der Bedeutung Vorarlberger Alpwirtschaften. Insbesondere die kritische Betrachtung der medialen wie auch politischen Darstellung des saisonalen Lebens von nur 1,5 Prozent der Landesbevölkerung auf den Vorarlberger Alpen ist den Leserinnen und Lesern zur Lektüre empfohlen. Auf dass vielleicht so manche Wanderung im kommenden Jahr auch mit einem geschärften Blick auf den meist idealisierten Naturraum unternommen wird.  

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2024 erschienen.

Bernhard Tschofen: Alpenland Vorarlberg. Erkundungen zu Geschichte und Kultur. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2024, 164 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-7030-6630-6, € 24,90