Der beeindruckende Loop von Matthias Bildstein & Philippe Glatz als Wegweiser zur Langen Nacht der Museen.
Dagmar Ullmann-Bautz · 24. Sep 2023 · Theater

„Wer ist eigentlich John Galt?“

Eine anfangs nur bescheidene Frage, die im Verlauf des Theaterabends zu einer monumentalen heranreift: „Atlas streikt“ nach Ayn Rands Roman als beeindruckende Bühnenfassung und Uraufführung am Vorarlberger Landestheater

Was passiert, wenn alle klugen, kreativen, vernünftigen, fähigen und produktiven Menschen streiken und sich dem System und der Gesellschaft verweigern? Mit dieser monumentalen Frage entließ das Vorarlberger Landestheater sein gestriges Premierenpublikum. Nach über drei Stunden geballter Erzähl- und Schauspielkunst darf, soll und muss diskutiert werden. Die Uraufführung des Stückes „Atlas streikt“, nach dem Roman von Ayn Rand „Atlas shrugged“, wurde schon im Vorfeld mit großer Spannung erwartet.

Kaum jemand in Europa kennt Ayn Rand, weder als Autorin noch als Philosophin. In den USA wurde sie mit ihren Romanen, insbesondere „Atlas Shrugged“, bekannt und erfolgreich. Sie entwickelte ihre eigene vom Kapitalismus geprägte Philosophie, den Objektivismus, der besonders bei rechtslibertären Republikanern beliebt ist, jedoch in akademischen Kreisen sowie Universitäten der USA keine sonderlich große Rolle spielt. Daraus folgt, dass ein akademischer Diskurs über den Objektivismus nahezu ausblieb.

Flucht in die USA

Ayn Rand (1905-1982) wurde als Alissa Sinowjewna Rosenbaum in Sankt Petersburg geboren. Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 und des Aufstiegs der Bolschewisten unter Lenin wurde ihre Familie enteignet und zog verarmt auf die Krim. 1921 kehrte sie mit ihrer Familie nach Sankt Petersburg (nun Petrograd) zurück und begann ihr Studium der Philosophie und Geschichte an der Petrograder Staatlichen Universität, das sie 1924 abschloss. 1925 wurde ihr ein befristetes Ausreisevisum in die USA gewährt. Im Januar 1926 reiste sie zu Verwandten nach Chicago und kehrte niemals wieder in ihre Heimat zurück. Stattdessen wandte sie sich Hollywood zu, um dort als Drehbuchautorin zu arbeiten. 1931 erlangte sie schließlich die US-Staatsbürgerschaft. 1936 wurde ihr erster Roman „We the Living“ (auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Vom Leben unbesiegt“) veröffentlicht. „Atlas Shrugged“ (deutsch: „Atlas wirft die Welt ab“ bzw. „Wer ist John Galt?“ bzw. „Der Streik“ bzw. „Der freie Mensch“), herausgegeben 1957, ist ihr letzter und wohl bedeutsamster Roman. In der Folgezeit konzentrierte sie sich basierend auf ihrer eigenen Philosophie, dem Objektivismus, darauf, gesellschaftlich und politisch Einfluss zu nehmen. Ayn Rand starb 1982 in New York an einem Herzinfarkt.

Freiheit durch demokratischen Kapitalismus

Ihre Geschichte enthüllt, weshalb Ayn Rand zu einer vehementen Verfechterin und für manche zur Ikone von Freiheit, Egoismus und Kapitalismus geworden ist. Und genau da muss man ganz genau hinschauen, muss man differenzieren. Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus und Egoismus nicht gleich Egoismus. Die Geschichte „Atlas streikt“ erzählt von Menschen, die ihren Verstand benutzen, ihre Fähigkeiten und Talente einsetzen, um Geld zu verdienen, sei es, ob sie einfach nur den besten Burger braten oder ein neues, umweltfreundliches Material entwickeln. Diese Menschen lassen sich, so Rand, nicht von Lobbyisten, bestochenen Politikern und manipulierten Gesetzen aufhalten. Sie arbeiten hart und gehen auch persönliche Risiken ein, wenn sie an eine gute Sache glauben. Rand erzählt von der Freiheit zu denken und laut zu sagen, was man denkt, und sich frei in der Welt zu bewegen. Egoismus in dem Sinne verstanden, dass man entscheidet, wo man seine Talente, Fähigkeiten und seine Energie einsetzt, um ein fruchtbares und sinnvolles Leben zu führen. Für Ayn Rand gilt demokratischer Kapitalismus, also der Wettbewerb, als einzige Gesellschaftsform, die diese Freiheit garantiere. Das Vorarlberger Landestheater fordert uns nun heraus, darüber zu diskutieren! Denn wenn der Roman, wie auch das Theaterstück, im Amerika der 50er Jahre spielt, so sind doch ganz viele Parallelen ins Hier und Heute erkennbar.

Rasante Szenen und tolle Musik

Wie schafft man es nun, einen 1.300 Seiten Roman in ein Stück zu gießen, ohne sich zu zerfasern? Wie schafft man es, die Ayn-Randsche-Theorie leicht verständlich zu erzählen? Niklas Ritter, verantwortlich für Text und Inszenierung, hat es geschafft, diese große Geschichte einzudampfen und dennoch gut verständlich zu erzählen, aufgefächert in viele kleine, temporeiche Szenen, ergänzt mit eigenen Dialogen, unterstützt von einem fantastischen Geräusch- und Musikteppich des musikalischen Leiters des Hauses Oliver Rath und seinen als auch von Stefan Hartmann kreierten, mitreißenden Videoprojektionen.

Perfektes Zusammenspiel eines wunderbaren Ensembles

Der erste Teil bis zur Pause präsentiert sich als eine eher leichte und doch spannende, mit herrlichem Witz gespickte Einleitung, in der die Protagonist:innen erklärt und etabliert werden. Nach der Pause nimmt das Stück enorm an Fahrt auf, ähnlich einer Achterbahn, voller Dramatik, sich zuspitzend in einen furiosen Epilog. Von Anfang an nimmt die Geschichte gefangen, bleibt bis zum Schluss spannend und mitreißend. Das liegt einerseits an der großartigen Inszenierung von Niklas Ritter, andererseits an einem ganz wunderbaren und energiegeladenen Ensemble. Da ist Vivienne Causemann als Dagny Taggert, die der Figur alles verleiht, was sie braucht, allem voran eine beeindruckende, berührende und in den Bann ziehende Ausstrahlung. Die Figur des Hank Rearden wird überaus überzeugend, in jeder Faser wahrhaftig, vom großartig aufspielenden Raphael Rubino dargestellt. In der Rolle des extrem unsympathischen, macht- und geldgeilen, aber unfähigen James Taggert ist Nico Raschner aufrichtig zu bewundern – eine großartige Studie. Auch Lisa Maria Huber weiß in der Figur der Lillian Rearden alle Facetten einer von Gier angetriebenen Person auszuspielen. Als überaus starke und sehr straighte Frau – Francisca d´Anconia – begeistert Nanette Waidmann, auch mit ihrem großartigen musikalischen Talent, fantastisch im Duett mit Vivienne Causemann. Ganz neu im Ensemble des Landestheaters sehen wir Rebecca Hammermüller, die einfach hinreißend und äußerst berührend die emotionale Klaviatur des Mädchens aus der Provinz Cherryl Brooks bedient. In vielen verschiedenen Rollen und dennoch jedes Mal vollkommen neu ist Luzian Hirzel zu bewundern, einfach großartig seine Wandlungsfähigkeit. Ebenso Ingolf Müller-Beck, der in jeder Figur eine enorme Wahrhaftigkeit ausstrahlt. Auch Stefan Hartmann weiß in seinen unterschiedlichsten Figuren zu überzeugen. Chapeau für das gesamte Ensemble, das auch durch sein perfektes Zusammenspiel brilliert.

Fantastische Ausstattung

Und noch etwas begeistert an dieser Produktion – die Ausstattung von Annegret Riediger, mit wunderbaren, sich in die Geschichte einfügenden Kostümen und einem fantastischen, extrem beeindruckenden Bühnenbild, das von Simon Tamerl einfach perfekt ins Licht gesetzt wurde. Ein Bühnenbild, das fast die Möglichkeiten des Theaters sprengte und nur durch ein großartiges Haustechnik-Team unter der Leitung von Tino Machalett dennoch auf die Beine gestellt werden konnte.
Mit großem Applaus bedankte sich das Publikum, und nicht wenige stürzten sich unmittelbar danach in lebhafte Gespräche. So muss Theater sein!!!

Vorarlberger Landestheater: „Atlas streikt", nach Ayn Rand
weitere Vorstellungen: 28./29.9., 24./28.10, jeweils 19.30, 29.10., 17 Uhr mit anschließendem Publikumsgespräch
Theater am Kornmarkt, Bregenz

https://landestheater.org