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Thomas Weber · 01. Jul 2025 · Gesellschaft

„Was wir tun, tun wir nicht für uns.“

Herausforderung Alpwirtschaft – Interview mit Bauer und Älpler Martin Hager

Bis die Ferien beginnen ist Martin Hager (42) allein auf der Alpe Haslach am Fuße des Hohen Freschen. Dort hütet er 130 Rinder von 14 Bauernhöfen, 17 davon aus dem eigenen Stall unten in Dornbirn. Auch um 28 Schafe, ein paar Ziegen und Schweine kümmert er sich hingebungsvoll. Nur an Wochenenden kommen seine Frau Ilse und die drei Kinder zu ihm hoch. Die Ferien verbringt – und arbeitet – die Familie dann gemeinsam im Hochgebirge. Für Ilse ist es der 41. Alpsommer. Seit den 50er Jahren wird die Alp in dritter Generation gepflegt. Und seit einigen Jahren muss das „Hobby Alpbetrieb“ aus dem Tal querfinanziert werden. Um die Kulturlandschaft zu erhalten, hat das Paar mit Gleichgesinnten einen Kulturverein gegründet. Ein Telefongespräch über schweißtreibende Kulturarbeit und Direktvermarktung, Kundenbindung und sinnstiftendes Workout beim Arbeitseinsatz auf der Alp.

Thomas Weber: Du bist seit April auf der Alp. Wie läuft der diesjährige Almsommer bislang?
Martin Hager: Mit unseren eigenen Tieren bin ich seit Ende April hier oben. Ich halte nicht viel vom ständigen Hin-und-her-Pendeln. Ende Mai war das meiste Vieh auf der Alp. Das von zwei Bauern fehlt noch, die bringen es heute Nachmittag (am 10. Juni, Anm.). Bisher ist alles gut. Wir hatten ein herausforderndes Frühjahr und sind mit sehr wenig Wasser aus dem Winter gestartet, vergangene Woche dann das genaue Gegenteil: Es war extrem nass. Aber jeder Tropfen tut wohl. Wir haben hier seit Jahren viel in die Wasserversorgung und ins Tränkewasser investiert. Wasser ist Leben. Wobei wir zusehends an unsere Grenzen stoßen. Vor ein paar Jahren haben wir einen 10.000-Liter-Wassertank vergraben, in den Jahren darauf temporäre Pumpwerke errichtet, wo wir das Wasser auf höher gelegene Flächen hochpumpen. Unsere Hütte auf der Alpe Haslach liegt auf 1.242 Metern Seehöhe. Hier sind wir bis Ende Juni, dann um den Dreh des Ferienbeginns wandern wir für sechs, sieben Wochen hinauf auf die Alpe Binnel. Die dortige Hütte liegt auf 1.724 Metern. Danach kommen wir bis Mitte September wieder hierher auf die Alpe Haslach herunter. Unsere Weideflächen liegen von 1.100 Metern bis knapp 2.000 Metern. Wir beweiden im Sommer also ungefähr 900 Höhenmeter. Wetter und Klima fordern uns mittlerweile extrem. Einerseits die Trockenheit, dann wieder Starkniederschläge.
Weber: Du bist heute extra um 4.30 Uhr aufgestanden, um Zeit für unser Telefonat zu haben. Wie kann ich mir denn den Alltag auf der Alp vorstellen?
Hager: Mich haben schon öfter Praktikanten in der Früh gefragt, was wir morgen tun werden. Was soll ich sagen, wenn ich beim Aufstehen nicht mal weiß, was ich am Nachmittag tun werde? Grundsätzlich gleicht sich jeder Tag, aber kein Tag ist wie der andere. Zuerst kommt die Stallarbeit, dann das Frühstück, dann die Tierkontrolle und erst danach folgt die Tagesordnung. Ich möchte wirklich jeden Tag jedes Tier sehen und diese Kontrolle nimmt viel Zeit in Anspruch. Momentan bin ich während der Woche allein auf der Alp. Nach dem Aufstehen melke ich unsere Selbstversorgerkuh, dann schaue ich nach den Rindern, derzeit knapp 100 Stück. Nachdem ich heute alle Rinder gesehen hatte, ging es höher rauf zu den Schafen, dann zurück auf die Alp, damit wir beide um 10.30 Uhr telefonieren können. Später bringen zwei Bauern ihr Vieh. Und jede freie Minute, die bleibt, widme ich der Weidepflege. Das heißt: Unkraut mähen, Farn bekämpfen. Sind wir zu mehrt, gibt es gezielte Weideerhaltungsmaßnahmen wie Wege richten, schwenden (Buschwerk beseitigen, Anm.). Das ist ein Knochenjob und passiert eher in den Abendstunden. Gestern Abend hab‘ ich bis zur Dunkelheit, bis knapp 22 Uhr, gemäht. Es gibt immer was zu tun. Wobei Tierpflege und Kontrolle bei Schlechtwetter manchmal den ganzen Tag in Anspruch nehmen, weil sich die Tiere dann verstecken.
Weber: Die Wochenenden verbringt die Familie gemeinsam?
Hager: Bis Ferienbeginn sind meine Familie Wochenpendler. Wir haben ja drei schulpflichtige Kinder. Wir könnten eine Bewilligung bekommen, sie für die Alpzeit früher aus der Schule zu nehmen. Davon halten wir aber wenig. Der Job der Kinder ist die Schule. Auf die Alpe Haslach kann man mit dem Auto fahren, das dauert eine Stunde. Auf die Alpe Binnel kommt man nur zu Fuß weiter. Die erreicht man in zirka eineinhalb Stunden. In den Sommerferien sind wir zu fünft hier. Die letzten Wochen nach Ferienende bin ich wieder allein. Heute ist dank Telekommunikation einiges leichter. Notfalls rufe ich meine Frau – und es gibt immer irgendwelche Joker, die man ziehen kann. Sonst ginge es eh nicht. Manchmal tun wir uns als Kollegen zusammen und mähen gemeinsam mit unseren Motorsensen. 

Technische Hilfsmittel als Fluch und Segen

Weber: Wie kommuniziert ihr?
Hager: Wir haben ein Telefon, aber bei Weitem nicht überall Netz. Man muss sich halt dorthin begeben, wo es Empfang gibt. Die Errungenschaft der letzten Jahre ist das Internet. Auf WhatsApp schreibe oder spreche ich Nachrichten ein – und wenn der Empfang passt, werden sie verschickt. Die technischen Hilfsmittel sind, wie man so salopp sagt, Fluch und Segen zugleich. Jahrhunderte haben wir ohne sie gearbeitet. Heute verlassen wir uns zu sehr darauf.

An dieser Stelle wird das Telefonat unterbrochen. Auf der Alpe hätte der Empfang gepasst, aber der Interviewer saß im Zug zwischen Wien und St. Pölten, wo die Verbindung abreißt. Als wieder ein Gespräch zustande kommt, hat Martin Hager in der Zwischenzeit mit seiner Frau telefoniert. Martin Hager berichtet:

Bei einem Nachbarn waren gestern von Null auf hundert die Tiere komplett durcheinander, es fehlen auch einige Kühe. Vermutlich ein Raubtier. Meine Frau hat gerade angerufen, dass wir uns zusammentun und am Nachmittag gemeinsam ein Großaufgebot machen und suchen helfen. So schaut mein Tagesplan schon wieder anders aus. Das Tiere-Suchen kann Tage dauern. Es ist sehr zermürbend, wenn du keine Ahnung hast, was dich erwartet. Der ganz normale Wahnsinn. 

Weber: Was passiert derzeit am Hof unten im Tal?
Hager: Dort ist es sehr ruhig. Die erste Futterernte ist mit dem ersten Heuschnitt erledigt. Wir haben aber einen großen Selbstversorgergemüsegarten. Der bedeutet für meine Frau jeden Tag ein paar Stunden Arbeit. Während dem Sommer ist sie einen Tag in der Woche unten, um Erledigungen zu machen. Wir haben ja drei Haushalte: zwei Alpen und den Hof. Wir brauchen auch oben alles: Lebensmittel, Werkzeug, Kleidung für jedes Wetter, Medizin ... Wirklich alles.
Weber: Ihr vermarktet ausschließlich direkt über eure WhatsApp-Gruppe. Aber nur, wenn ihr am Hof in Dornbirn seid, oder?
Hager: Alles wird direkt vermarktet, ohne Molkerei, Viehhandel und Zwischeninstanzen, zum allergrößten Teil privat und an drei kleine Gastronomiebetriebe. Wir haben 300 Kunden, fast ausschließlich in Vorarlberg. 300 Kunden sind die beste Versicherung. Nur einen Kunden zu haben – zum Beispiel eine Molkerei –, das ist eine gefährliche Abhängigkeit. Mir ist ganz wichtig, dass man sich persönlich kennt. Der Kunde soll wissen, wer seine Lebensmittel produziert. Und ich möchte wissen, wer meine Arbeit konsumiert. Ich habe mich auch schon entschieden, einzelne Kunden nicht mehr zu beliefern.

Wie Kunden zur saisonalen Vorratshaltung „erzogen“ werden

Weber: Warum das?
Hager: Wenn jemand an die Landwirtschaft Anforderungen stellt, die wir nicht erfüllen können, soll er sich jemanden suchen, der das kann. Wer meint, in einem Wald dürfe kein Baum gefällt werden, aber gleichzeitig Brennholz beziehen möchte – alles schon passiert –, der kauft sein Holz besser nicht bei uns. Wir informieren vorab, wann geschlachtet wird, dann kann bestellt werden. Wir schlachten und zerlegen – auch ganz nach Kundenwunsch – und stellen zu. Es ist ökologisch sinnvoller, wir fahren, als wenn Hunderte zu uns auf den Hof kommen. Man kann uns natürlich gerne besuchen, aber angemeldet und wenn wir uns Zeit nehmen können. Jetzt im Sommer verkaufen wir nichts. Dazu muss man die Kunden erziehen, also auch zur selbständigen Vorratshaltung. Wer im Sommer Grillfleisch von uns haben möchte, muss sich im Frühling damit eindecken.
Weber: Wegen dem Geld macht man nicht, was ihr tut, das ist klar. Was ist deine Motivation?
Hager: Wir brauchen natürlich soviel, dass wir den Betrieb im selben guten Zustand wie wir ihn übernommen haben, an die nächste Generation weitergeben und eine Familie ernähren können. Soviel Geld will ich verdienen. Wir arbeiten so, dass unser Planet durch unser Handeln keinen Schaden nimmt. Dazu muss man einiges tun, das nicht in Geld aufgewogen werden kann. So können wir uns auch das Hobby Alpbetrieb leisten, das wir aus dem Tal querfinanzieren. Manchmal gerätst du gegenüber den Kindern in Erklärungsnot, warum wir im Sommer 24/7 arbeiten, wenn sich das nicht einmal selbst trägt. Aber was wir tun, tun wir nicht für uns. Ob wir es für unsere eigenen Kinder tun, wissen wir nicht. Was wir wissen: Wir tun es für die Gesellschaft und wir erhalten Land nutzbar. Mein Schwiegervater hat einmal gesagt, als wir an einem katastrophalen Kahlschlag vorbeikamen: „So hinterlässt man einen Wald nicht, auch wenn man keine Kinder hat.“ Daran orientiere ich mich. Wir alle müssen was tun, abseits von Kapitalismus, dass wir in unseren Breiten weiterhin eine lebenswerte Lebensgrundlage erhalten. 

Bedrohte Alpwirtschaft 

Weber: Inwiefern ist die Alpwirtschaft bedroht?
Hager: Südlich des Alpenhauptkamms, in Frankreich und Italien, wurde vielerorts die Alpwirtschaft aufgegeben. Dort sind heute ganze Täler entvölkert. Darauf steuern wir auch zu. Es wird ja oft gejammert, wie teuer Lebensmittel sind. Vor einiger Zeit stand im „Standard“: „Butter war in Österreich noch nie teurer als heute“. Ich habe mir im Winter die Mühe gemacht, mir das mal anzusehen. Es stimmt nicht. In der Zwischenkriegszeit konnte sich in unserer Gegend nur der am besten bezahlte Senn – das war ein privilegierter Beruf – ein ganzes Kilo Butter am Tag leisten. Heute kann sich der durchschnittliche österreichische Arbeiter am Tag mehr als 20 Kilogramm Butter leisten. Die Lebensmittelpreise sind ins Bodenlose gesunken. Deshalb ist Alppersonal nicht mehr bezahlbar und wir machen heute allein, wo es früher fünf Vollzeitäquivalente gab. Diese fehlenden Hände bedrohen die Alpwirtschaft; außerdem das fehlende Vieh. Durch den Klimawandel gibt es immer mehr Grünmasse, Flächen verbuschen. Wir bräuchten eigentlich mehr Vieh in den Alpen, aber die Tierauftriebszahlen sind rückläufig. Und große Raubtiere bedrohen uns. Ich sage absolut nicht, dass sie die einzige Bedrohung sind. Aber sie sind mit ein großer Stein in dem Puzzlewerk.
Weber: Wie kamt ihr denn auf die Idee, einen Kulturverein zu gründen?
Hager: Er nennt sich „Verein zum Erhalt des Kulturlebensraums der Alpen Haslach und Binnel“. Kultur deshalb, weil wir hier eine Kulturlandschaft erhalten wollen, keine Naturlandschaft; und weil im Lateinischen cultura Bebauung und Pflege stecken. In der italienischen Agricultura hören wir noch, dass die Wurzeln unseres Tuns eine wesentliche kulturelle Tätigkeit sind. Das wollen wir ins Bewusstsein rücken. Bauern machen nur noch 2 Prozent der Bevölkerung aus, die sie ernähren und deren Landschaft sie pflegen. Die 98 Prozent wissen zum Großteil nichts darüber. Etwa, dass es Wanderwege nicht gibt, weil sie von Touristikern erbaut wurden, sondern dass es sich eigentlich um Wirtschaftswege handelt. Wir müssen als Gesellschaft wieder näher zusammenkommen, um alles weniger vereinzelt und wieder als Ganzes betrachten zu können. Viele interessieren sich dafür, wollen aktiv mithelfen oder uns passiv finanziell unterstützen. Wir binden die Leute in unsere Arbeit mit ein und fanden einen Verein als passenden Rahmen. Die Leute sollen sich identifizieren mit uns und der Landwirtschaft. Mittlerweile haben wir 50 Mitglieder und zwei Arbeitseinsätze hinter uns. Die große Motivation und Gemeinschaft erfreuen uns. Wer sich bei uns aktiv einbringt, das Erfahrene weiterträgt und dann im Supermarkt zu einem heimischen Produkt greift – unsere eigenen Produkte gibt’s dort eh nicht –, wenn das passiert, dann haben wir etwas erreicht. 

„Wir jammern nicht, wir tun.“ 

Weber: Ich bin bei euch Vereinsmitglied, habe es aber noch nicht zum gemeinsamen Arbeiten geschafft. Was habe ich denn versäumt?
Hager: Ziemlich viel, würd‘ ich sagen. Wir haben Steine geräumt und damit Weideflächen – natürlich nur einen kleinen Teil – von Steinen, die von weiter oben mit dem Schnee oder über Lawinen auf unseren Wiesen landen, befreit. Jeder Stein bedeckt das Maul voll Gras einer Kuh und erschwert die Sensenmahd. Wir haben Steinhaufen gemacht, die wiederum ein Lebensraum für Insekten, Eidechsen oder Blindschleichen sind. Ein Ziel unseres Vereins ist es, Naturschutz zu leben. Die Mitglieder haben sich sehr ins Zeug gelegt. Das war sehr erfüllend, weil es sinnvoller ist als nur zu laufen, um unnütze Kalorien zu verbrennen. Wir verbinden Workout und Leistung – und nach dem Arbeitseinsatz haben wir gemeinsam gespeist. Essen ist ja mehr als nur Nahrungsaufnahme. Fleisch und Gemüse kommen von unserem Betrieb, Nudeln vom Martinshof, der uns ebenso unterstützt wie unsere zwei regionalen Brauereien Egg und Mohren, von denen die Getränke als Materialspende kamen. Ein weiterer Arbeitseinsatz ist für den 17. Juli geplant …
Weber: Für eine erste Bilanz ist es noch zu früh, oder?
Hager: Wir sind hochmotiviert. Die Menschen wollen was tun und wissen, wer ihre Lebensmittel produziert. Wir hoffen, der gute Geist hält an. Dann können wir was bewegen. Wir jammern nicht, wir tun. Wir sind an einem Wendepunkt und haben das Gefühl, dass es noch nicht zu spät ist. Wir wollen ja nicht wachsen, haben auch gar nicht endlos Produkte zur Verfügung. Mein Wunsch wäre, dass früher oder später die meisten unserer Lebensmittel an Vereinsmitglieder gehen, weil diejenigen, die sich engagieren, vor allen anderen informiert werden, wann es Fleisch, Wurst und Speck gibt. Sie sollen ja auch was davon haben.
Weber: Du betreibst eine WhatsApp-Gruppe von knapp fünfzig ausgewählten „Zukunftsbauern“ aus Österreich, Südtirol, Deutschland, der Schweiz und Norwegen. Was haben denn all diese Bäuerinnen und Bauern gemeinsam?
Hager: Ich kenne nicht alle persönlich und kann deshalb nicht sagen, wie sie alle ticken. Grundsätzlich handelt es sich um selbständige Bäuerinnen und Bauern, die bereit sind, ihr Wissen in einer Community zu teilen und über Sorgen, Nöte und Herausforderungen unserer Zeit und unseres Berufsstands lösungsorientiert zu diskutieren. Wir erwarten keinen Messias, der uns die Welt rettet. Wir tun selbst was. Wir teilen Erfolge und Misserfolge. Das ist ein verloren gegangener Charakterzug, nicht nur in der Landwirtschaft.

Thomas Weber ist Gründer und Herausgeber von BIORAMA (Magazin für nachhaltigen Lebensstil), Buchautor (zuletzt: „100 Punkte Tag für Tag“), verantwortet die im Residenz Verlag erscheinende Buchreihe „Leben auf Sicht“ und lebt im Marchfeld. Kolumnist für „Die Presse“ und die „Bauernzeitung“, aktiv im Komitee für den neuen Nationalpark „Kampwald“.

Infos zum neu gegründeten Verein zum Erhalt des Kulturlebensraums der Alpen Haslach und Binnel finden Sie auf www.kultur-lebens-raum.at.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der „KULTUR" Juli/August 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.