vorarlberg museum plant für 2025 Ausstellung zu Franz Plunder (Foto: Stadtarchiv Bregenz)
Annette Raschner · 17. Sep 2024 · Literatur

Vamos!

Arno Geigers neuer Roman „Reise nach Laredo“

„Streets of Laredo“ heißt ein Song, in dem Johnny Cash von einem armen, jungen Cowboy erzählt, der im Wissen, dass er bald sterben muss, sein Leben lakonisch bilanziert: „I know, I‘ve done wrong“. Diese Zeile stellt Arno Geiger seinem neuen Roman „Reise nach Laredo“ voran, in dem der einstige Kaiser und König Karl, nachdem er all seine Kronen und Ämter zurückgelegt hat, erkennen muss: „Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat.“

„Karl hat zehnmal mehr gelebt als andere und zehnmal weniger. Sein Körper sieht aus wie der eines Greises. Jemand, der so aussieht, ist fast so alt wie die Welt.“
Karl ist, wie es Arno Geiger im Buch trocken auf den Punkt bringt, „ein alter Sack“. Sprich: 58 Jahre alt, schwerkrank und von Gicht und Depressionen geplagt. Der einst mächtigste Mann seiner Zeit, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und König des spanischen Weltreiches, „in dem die Sonne nie unterging“, hat sich mit seinem fünfzigköpfigen Tross in die Einsamkeit von Yuste zurückgezogen, um zu erfahren, wer er jenseits aller Ämter und Würden eigentlich ist. Doch die Antwort auf die vielleicht existenziellste aller Fragen bleibt aus. In der lähmenden Atmosphäre von Yuste wachsen Karls Teilnahmslosigkeit und Verzweiflung Stunde um Stunde, Tag um Tag. Yuste erweist sich als Fluch, als das Ende der Welt. „Wenn in der weiteren Umgebung nicht manchmal ein kleines Verbrechen oder ein Ehedrama die Gemüter aufschrecken würde, kämen alle um vor Langeweile.“

„Der Himmel ist leer. Der König lebt noch“

Arno Geiger ist ein zielstrebiger Autor, doch bei der Suche nach inspirierenden Stoffen geht er spielerisch vor. Er stolpere über vieles, und manchmal bleibe er bei etwas hängen, erzählt er im Gespräch. „Das hat dann natürlich mehr mit mir zu tun als mit dem Gegenstand. Karl ist ungefähr in meinem jetzigen Alter zurückgetreten. Die Hölderlinsche Gedichtzeile ,ich bin nichts mehr‘ vorwegnehmend, beschließt Karl: ,Ich bin nur noch Person, und ich möchte nur noch mit meinem Vornamen angesprochen werden.‘ Ich hatte das Gefühl, dass das mit einem Empfinden von mir beziehungsweise mit Fragen zu tun hat, die mich beschäftigen. Wo setze ich die Prioritäten? Sind mir andere wichtiger als ich selber? Wie weit bin ich bereit, zu gehen? Und kommt der Punkt, an dem ich sage, es reicht, weil ich ansonsten auf der Strecke bleibe?“

„Zwischen lauter Einsamkeiten“

Karl hat sich aufgegeben. Nachts treibt ihn die Angst um, wahnsinnig zu werden, wie einst seine Mutter. Tagsüber langweilt er sich unendlich, nachdem es auch mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen nicht geklappt hat. „Das Geschriebene kam durchwegs schief heraus, dumm oder falsch, meistens beides.“ Er lässt die Papiere von seinem Kammerdiener in die Flammen werfen, und um sich zu trösten, frisst und säuft er. Seine Lieblingsdroge heißt Laudanum, also Opium. „Da sitzt er im Spezialstuhl, schaukelt unter monotonem Quietschen, sieht trübe auf die Seerosen im Teich, die so zart sind, dass Karl Sorge hat, die Blütenblätter könnten Druckstellen bekommen vom Hinsehen.“ Der Roman ist voll von so wunderbaren Sätzen, Arno Geiger erweist sich wieder als feiner Stilist – aber auch als großartiger Erzähler.

„Ich bin kein Geschichtswissenschaftler, sondern Künstler“

Um in die Tiefen der Seele seines verzweifelten Protagonisten zu gelangen, hat Arno Geiger umfangreich recherchiert. Kaiser Karl V. hatte einen unehelichen Sohn, Juan de Austria, gezeugt mit einem Bürgermädchen, der schon 1550 nach Spanien geschickt und dort unter der Obhut von Luis de Quijada von einfachen Leuten im Stillen erzogen wurde. Während Karls Aufenthalt in Yuste war „Geronimo“ im Gefolge Quijadas, sodass der einstige Kaiser ihn oft sehen konnte. Geronimo weiß nichts über seine Herkunft, im Roman knüpft Arno Geiger zarte Bande zwischen dem elfjährigen Knaben und Karl; zwei Menschen, die auf den ersten Blick so wenig gemeinsam zu haben scheinen, mit Ausnahme des Gefühls, entsetzlich einsam und gelangweilt zu sein. 

„Vielleicht sollten wir gemeinsam durchbrennen“

Diesen Satz lässt Arno Geiger Karl auf Seite 32 zu seinem illegitimen Sohn sagen, und der findet die Idee gar nicht so abwegig, möchte nur wissen, wohin die Reise gehen soll. Zwanzig Seiten später wechselt Arno Geiger nicht nur ins Präteritum, sondern auch in ein anderes Genre. Das Buch wird nun zum fantastischen Abenteuer-, und philosophisch grundierten Schelmenroman. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und Miguel de Cervantes lassen grüßen! 

„Das also ist das Leben“

Um Mitternacht, bei strömendem Regen, mit Maultier und Grauschimmel geht es los, Karl – wohlgemerkt – auf dem Maultier, weil er wegen seiner Schmerzen auf das Pferd nicht raufkommt. „Karl folgte ihm, und während er ihm folgte, dachte er: Das also ist das Leben, ein alter Mann und ein Kind, die durch den Regen reiten, und hundert Kröten hüpfen über den Weg. Nein, da täuschte er sich, er sah ein zweites Mal hin, da war nichts von hundert Kröten. Aber der alte Mann auf dem Maultier und das Kind auf dem Grauschimmel, sie existierten, sie ritten ins Ungewisse. Das also ist das Leben.“ 
In der Abgeschiedenheit von Yuste hat sich Karl eine kleine Villa nach eigenen Plänen erbauen lassen, Arno Geiger ermöglicht dem alten Mann herrliche Abenteuer mit Hutdurchschüssen, Exzessen und Raufereien. Der sterbenskranke, lebensunfähige Karl als wilder Haudegen: Das hat Verve, Komik und ungemein viel Charme!
Panama heißt bekanntlich in Janoschs berühmtem Kinderbuch der für Tiger und Bär letztlich unerreichbare Sehnsuchtsort. Karl und Geronimo, deren Gefolge sich bald die beiden Cagots Angelita und Honza anschließen, streben Laredo an. Die spanische Hafenstadt war 1556 das letzte Reiseziel von Karl V. 

„Ach, die Tür des Glücks, sie geht nicht nach innen auf“

Das hat der dänische Philosoph Kierkegaard gesagt. Arno Geiger fügt hinzu: „Es entspricht auch meiner Erfahrung, dass Abschottung und Isolation im Leben nichts bringen. Kraft der Imagination und der literarischen Mittel habe ich also eine Alternativgeschichte erfunden und Karl in die Ferne geschickt. Als Person, nicht als Majestät. Das Schreiben hat mir diesmal eine enorme Freude bereitet, es ging sehr leicht von der Hand. Vermutlich ist es die bislang lässigste Narration in meinem Werk.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2024 erschienen.

Arno Geiger: „Reise nach Laredo“. Hanser Verlag, München 2024. 272 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-446-28118-9, € 26 
Lesung und Gespräch: Di, 8.10., 19.30, in Kooperation mit dem Franz-Michael-Felder-Archiv
Theater am Kornmarkt, Bregenz