Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Anita Grüneis · 05. Dez 2018 · Theater

Tschechows „Kirschgarten“ in Schaan: Früher waren alle glücklich. Und jetzt?

Einen aufregenden Theaterabend brachte das Schauspielhaus Dortmund in den Schaaner SAL. Gezeigt wurde an zwei Abenden Anton Tschechows „Kirschgarten“ in einer Inszenierung von Sascha Hawemann. Dabei sitzt das Publikum auf gleicher Höhe mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Bühnenbildner Wolf Gutjahr baute ein Gerüst aus Holzstangen, das von drei Seiten einsehbar ist. Vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer, die rundum in zwei Reihen sitzen, werden die Vorhänge geöffnet, zu sehen sind Stühle aller Arten, ein Tisch mit vielen alkoholischen Getränken - ein Raum, der nach Party aussieht und dem Publikum eine grandiose Abschiedsfeier bescheren wird.

Eine Feier, die ständig die Balance zwischen überbordender Lebenslust, Traurigkeit, Wehmut und Komik wahrt. In der Mitte fällt von oben ein runder Stoff-Tunnel herab, in dem Menschen auftauchen und verschwinden, als sei er der Schrank aus den „Chroniken von Narnia“. Während der Party wird er zur Schaukel, in der Menschen träumen und sich damit der Gegenwart entziehen. 

Der Tanz um das goldene Kalb

Regisseur Sascha Hawemann hat tief in das Werk Tschechows hineingehört und die darin verborgenen Feinheiten entdeckt. Da tanzen die ankommenden Herrschaften aus der Stadt um ihr Haus wie um ein goldenes Kalb und machen viel Lärm dabei, bis die junge Anja plötzlich leise sagt: „Ich bin zu Hause! Morgen früh steh ich gleich auf und laufe in den Garten“. Und schon sind alle in Tschechows Kirschgarten angekommen, jenem Stück Land, das für jeden eine andere Erinnerung birgt und in dieser Inszenierung auch zu einem Utopia wird. Denn alle handelnden Personen sind Haltlose voller Sehnsüchte. Der Gutshof ist ihr Hab und Gut, von dem sie auch innerlich leben mit ihren Idyllen, Träumen, Hoffnungen und ihrer Vergangenheit. So meint der alte Firs: „Früher, vor vierzig, fünfzig Jahren hat man die Kirschen getrocknet, eingemacht, eingelegt, Marmelade gekocht und dann ... Und dann wurden ganze Fuhren gedörrter Kirschen nach Moskau oder Charkow geschickt. Das brachte Geld! Und die gedörrten Kirschen waren weich, saftig, süß und dufteten. Damals kannte man noch das Rezept ... Heute ist das Rezept vergessen, keiner weiß es mehr.“ 

Ausgearbeitet bis ins kleinste Detail

Früher waren alle glücklich – und heute? Heute wird Party gefeiert, bei dem der Höhepunkt ein Wettbewerb um das Öffnen eines Gurkenglases ist. Oder die Gesellschaft macht sich über die Gläser mit den eingemachten Kirschen her, als wolle sie damit die Vergangenheit aufessen und wenn der Student Trofimow die Kirschen auf den Boden schüttet, dabei Kleider und Fußboden mit roter Farbe befleckt, dann ist das auch das Blut der Bäume aus dem Kirschgarten und das der Revolution. Und wenn später der alte Diener Firs die Herrschaften ununterbrochen mit Konfetti überschüttet, während diese in Reih und Glied und in teuren Pelzmänteln bereit zur Nimmerwiederkehr stehen, dann wird klar, dass Konfetti ja auch nichts Anderes ist als zerkleinertes Papier, vielleicht sogar Vertragspapier. Alles nur Konfetti!

Alles und alle werden versteigert

Der Satz „Leb wohl, altes Haus“, hat in Tschechows „Kirschgarten“ gleich mehrere Bedeutungen. Denn mit der Versteigerung des Gutshofs und seinem Garten kommen auch seine Besitzer unter den Hammer: die Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja (Friederike Tiefenbacher als sterbender Schwan) mit ihrer Ziehtochter Warja (etwas bieder: Bettina Lieder) und ihrer Tochter Anja (verträumt: Merle Wasmuth). Ihr Bruder Leonid Andrejewitsch Gajew (bei Ekkehard Freye ein echter Schnösel), der das Billardspielen und Bonbonessen zum Sinn seines Lebens machte. Dann der Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin (Frank Genser zeichnet ihn als kühlen, bodenständigen Aufsteiger). Dazu der ewige Student Trofimov (bei Björn Gabriel ein Zerrissener), der bereits von der Revolution träumt, während das Dienstmädchen Dunjascha sich schon zur Herrschaft gehörend fühlt (Marlena Keil zeigte sie etwas prollig, was aber auch an den Kostümen von Hildegard Altmeyer lag). Der 87-jährige Firs ist bei Uwe Schmieder ein schlurfender Lakai zwischen den Welten, der manchmal an Gollum erinnert, vor allem, wenn er Fische im Mund halten muss. Für die einfühlsame Live-Musik sorgte Alexander Xell Dafov, der mit seinem Akkordeon immer wieder äußerst wehmütige Stimmungen durch den Raum ziehen ließ. Ein wirklich starkes Stück mit einer starken Ensemble-Leistung.

Nächste Vorstellung: Mittwoch, 5. Dezember, 20 Uhr, SAL, Schaan. www.tak.li