Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Peter Niedermair · 02. Apr 2021 · Theater

Thomas Köck: dritte republik (eine vermessung) - teil drei der kronlandsaga

Das Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung bringt ein kafkaeskes Stück Weltgeschichte auf die Hinterbühne des Dornbirner Kulturhauses. Thomas Köck ist einer der gefragten Dramatiker Österreichs. Mit seiner bildmächtigen, rhythmisch-musikalischen Sprache forscht er mit den Mitteln des Theaters den geschichtsmetaphorischen Phänomenen wie auch den Akteur*innen der aktuellen politischen Gegenwart nach. Seine „dritte republik“ spielt im Titel auf die 1994 unter Jörg Haider verfasste programmatische Schrift „Weil das Land sich ändern muss! Auf dem Weg in die Dritte Republik“ an, in der ein Umbau Österreichs von einer parlamentarischen Demokratie zu einem Staat unter der alleinigen Führung eines direktgewählten Staatsführers mit unumschränkten Befugnissen beschrieben wird.

Keine schöne Ruhe vor dem Sturm 

Doch eigentlich ist dies nur eine von vielen verschiedenen Ebenen, Projektionen, kulturellen Referenzen, von Pop bis Literatur und Musik, von Jim Jarmusch, über Kafka bis hin zu Arnold Schönberg, die der Autor in einem großen, vielschichtigen und großartigen Textteppich verknüpft und gegeneinander laufen lässt, in ein monströs gewaltiges Textlawinenereignis einsackelt, wie man es nicht von vielen anderen kennt, vielleicht aus der Literatur von Elfriede Jelinek. 95 Minuten Dauertextpräsenz in einem stets spannenden, aktionistisch von traumartigen Schneefallgebilden begleiteten Stück, das mit hoher und höchster Geschwindigkeit auf der Hinterbühne des Kulturhauses abgespult wird. In der sehr eindringlichen, überzeugenden und beeindruckenden Inszenierung von Stephan Kasimir, Ausstattung: Caro Stark, steht das Panorama eines vor sich hin taumelnden Kontinents zwischen einem schwächelnden, in sich zerstiebenden Traum von Europa und den aufflackernden nationalstaatlichen Alptraumsehnsüchten, wie sie derzeit in den politischen Narrativen bis zum Überdruss strapaziert werden.

„Mich interessiert Historie auch einfach, um verschütt gegangene Ideen wieder für die Zukunft zu aktivieren. Ein bisschen wie Archäologie. Nur mit mehr Dezibel.“ (Thomas Köck)

Eine Landvermesserin fährt mit einem „Postzug“ von Wien bis zur Endstation, um nach strapaziöser Fahrt durch kriegsversehrte, ruinierte und in Bombenschutt gelegte, entvölkerte  Landschaften die Grenze neu zu vermessen. Sie irrt orientierungslos mit einem Koffer voller Präzisionsinstrumente durch einen Schneesturm, klopft bei einem Haus am Waldrand an, es öffnet ihr ein Kutscher ohne Kutsche, der sich ihr gegenüber als Weggefährte aufdrängt. Gemeinsam stolpern sie sich vorwärtsbewegend und begegnen skurrilen Gestalten, doch letzten Endes bleibt die Suche nach der Grenze, die markiert werden soll, vergeblich. Damit wird „dritte republik“ im semantischen Theaterkontext zur sprachlich wort- und bilderreich überzeugend Parabel auf den bereits angedeuteten allerorten wieder aufblühenden nationalstaatlichen Neoliberalismus – auch die Buberlpartie in den Umzäunungen der österreichischen Republik beherrscht das Steuern der Akteur*innen.
Die historische Achse im Stück ist das Jahr 1918. In der Nichtdurchsichtigkeit des heftigen Schneetreibens - noch nie war Kunstschnee auf einer Bühne so schön … - kann der Auftrag zur Grenzvermessung nicht wirklich stattfinden. Die beiden Protagonisten treffen auf verschiedenste Figuren und deren Versionen einer Idee von Europa. Unter ihnen ist auch der Hamburger Reedereidirektor und Visionär transnationalen Handels Albert Ballin, der sich am 9. November, dem Tag der Ausrufung der ersten demokratischen Republik, das Leben nimmt. In diesem kafkaesken Setting über die letzten 100 Jahre hinweg bis heute entwirft der Autor Thomas Köck die "dritte republik" als ein Verfassungskonzept für ein taumelndes Europa zwischen Globalisierung und nationalstaatlichen Sehnsüchten: die Dystopie eines autokratischen und neoliberalen Staatenbunds, ausgelöst durch den Rechtsruck mehrerer europäischer Länder.

Synopse

„Europa, im Winter 1918/19, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Inmitten eines Jahrhundertsturms irgendwo im posthabsburgischen Niemandsland trifft eine Landvermesserin auf einen Kutscher und bittet ihn, sie zur Grenze zu bringen. Immerhin schickt sie das ehemalige k.u.k. Vermessungsamt, um die neuen Außengrenzen zu vermessen. Aus dem kurzen Ritt durch die Peripherie des frühen, krisengeschüttelten 20. Jahrhunderts wird allerdings schnell eine surreale, albtraumhafte, posthistorische Odyssee auf einer Holzkutsche durch einen aus der Zeit und aus den Fugen geratenen Kontinent. Langsam verschwimmen im Sturm Zeiten und Schauplätze, historische Fakten und blinde Mutmaßungen. Unterwegs treffen der Kutscher und die Landvermesserin vom Tremor gebeutelte Soldaten, falsch gelandete Fallschirmspringer, kafkaeske Gehilfen, einen suizidalen, weltberühmten Reeder, und das alles am fürchterlichsten und menschenfeindlichsten Gebiet der Geschichte: der österreichischen Provinz.
Eine Vermessung nach Motiven von Jim Jarmusch, Franz Kafka, Thomas Pynchon, Marina Zwetajewa, Johannes Brahms, Dmitri Schostakowitsch, Hildur Guðnadóttir, Kode 9 und natürlich Arnold Schönberg. Wer weiß, vielleicht ist einiges anders überliefert, aber mit ein, zwei kleinen Änderungen könnte es circa hinkommen.“ (Thomas Köck)

Thomas Köck

geboren 1986 in Steyr, studierte in Wien und Berlin Philosophie, Literaturwissenschaft sowie Szenisches Schreiben. Mit „jenseits von fukuyama“ gewann Köck 2014 den Osnabrücker Dramatikerpreis und war in der Saison 2015/16 Hausautor am Mannheimer Nationaltheater. Für „paradies fluten“, Teil der Klimatrilogie („paradies fluten“, „paradies hungern“, „paradies spielen“) wird er 2016 mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker ausgezeichnet. Mit dem Schauspielhaus verbindet Köck eine enge, kontinuierliche Zusammenarbeit, seitdem mit „Strotter“ in der Regie von Tomas Schweigen die erste Uraufführung eines Stückes von Köck in Österreich realisiert wurde. Seine sprachphilosophische Zeitreflexion „die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ ist nach „Strotter“ und „Kudlich“, das 2016 mit dem Autorenpreis der österreichischen „Theaterallianz“ ausgezeichnet wurde, das dritte Stück, das als Auftragswerk des Schauspielhauses Wien zur Uraufführung kommt, und Köcks erste Regiearbeit. Köck wurde für „die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ für den Nestroypreis in der Kategorie „beste Regie“ nominiert, in der Kritikerumfrage von Theater Heute zum Nachwuchsautor des Jahres“ gewählt und erhielt 2018 und 2019 den Mühlheimer Dramatikerpreis. „Abfall der Welt“ kam 2018 am Staatstheater Karlsruhe in der Regie von Marie Bues zur Uraufführung und „Atlas“ 2019 am Schauspiel Leipzig, inszeniert von Philipp Preuss.

Aus dem historischen Literaturarchiv

Der Autor schöpft seine Stoffe aus einem historischen Literaturarchiv, aus einem reichen Fundus, den er zu einer Collage aus vielen Stimmen zusammenfügt. Daraus entwickelt er in der Folge eine sprachliche Struktur, um einen Einblick zu generieren, sich in Themen einzuarbeiten und eine historisch-politische Landkarte zu entwickeln. Köck kommt aus der Musik, die bei ihm in die Performance einfließt, er verfügt auch über eine journalistische Ausbildung, hat bei der APA gearbeitet, war aber nicht im eigentlichen Sinne für die Presse tätig. Doch er beherrscht die sprachlichen Schöpfungen bis ins Detail, hat sie sozusagen am kleinen Finger.
Wichtig in dieser Sprache ist auch der Rhythmus, der lange auf der Bühne weiterhallt, wie bei Filmen, die eine stark suggestive Ästhetik haben, so als schraube sie sich in eine Form hinein; seine Sprachopulenz ist stark sinnlich-körperlich orientiert, der Rhythmus spiegelt sich auch in den Körperbewegungen der schauspielenden Figuren, die eine sehr überzeugende Leistung abliefern. Die Akteur*innen auf der Bühne sprechen ihre Texte, die zu einem hoch verdichteten Stimmenkonzert zusammenwachsen, im Gepäck dieses historisch kafkaesken, weil eigentlich unmöglichen Vermessungsprojekts, das einem nach eineinhalb Stunden in den frühlingshaften Abend entlässt.
Mein Eindruck war, die Schauspieler*innen gehen mit großer Lust, Hingabe und Spielfreude an die Sache. Sie legen die „Geister“ der Sprache offen, die in sie eingewoben sind, doch es ist keine gespenstische Angelegenheit, vielmehr konkret und Fakt. Im Spiel ereignet sich in der spielerischen Wiederholung das Offenlegen der sozialen Automatismen, Interpretationen und begrifflichen Prägungen. Damit öffnet sich die Chance, das Andere bzw. den Anderen in uns selbst zu erkennen. Ein Stück weit zumindest. Im Geist der Gegenwart. Der Landvermesser in Kafkas „Schloss“ ist nur einer von den fünf Charakteren, die das Portrait dieser Zeit abgeben.

Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung: "dritte republik (eine vermessung)" v. Thomas Köck
Premiere: 1. April 2021, Kulturhaus Dornbirn
weitere Termine 2. 3. 7. 8. 9. April 2021, 18 Uhr
Mit Jeanne Marie Bertram, Maria Fliri, Simone Loser, Joachim Rathke, Jens Ole Schmieder, Regie Stephan Kasimir, Ausstattung Caro Stark, Licht Matthias Zuggal

Karten: https://www.unpop.at/karten
Eintritt nur mit FFP2-Maske und Zutrittstest