Synchrone Ichs, die auf vielfache Weise ausgelegt werden können – Café Fuerte spielt "Die Wand" nach Marlen Haushofer
Das unter dem Abendhimmel beim Ferienhaus Rainerau in Hittisau inszenierte Stück, das am Freitag, 3. Juli Premiere hatte, ist ein ganz besonderes Theatererlebnis. Eine vielschichtige Romanvorlage, „Die Wand“ von Marlen Haushofer, erschienen 1963, wird von der Regie führenden Danielle Fend-Strahm und dem Schauspieler Tobias Fend auf das Wesentliche reduziert, den Bericht der Ich-Erzählerin.
Der Roman von Marlen Haushofer (1920-1970) beginnt mit: „Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist. Im Lauf des vergangenen Winters sind mir einige Tage abhanden gekommen. Auch den Wochentag kann ich nicht angeben. Ich glaube aber, dass dies nicht sehr wichtig ist. Ich bin angewiesen auf spärliche Notizen; spärlich, weil ich ja nie damit rechnete, diesen Bericht zu schreiben, und ich fürchte, daß sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich erlebte. Dieser Mangel haftet wohl allen Berichten an.“ Damit beginnt ein großes Stück Literatur.
Die Ich-Erzählerin fährt mit Luise, ihrer Cousine und deren Mann Hugo übers Wochenende in ein Jagdhaus in den Bergen. Ihre Begleiter gehen am Vorabend im nahegelegenen Dorf in ein Gasthaus. Als die Protagonistin am nächsten Morgen erwacht, sind diese nicht zurückgekehrt. Sie beschließt, mit dem Hund ins Dorf zu gehen und bemerkt plötzlich einen „glatten Widerstand“, spürt eine Beule an ihrer Stirn; das Jagdhaus und die Umgebung sind von einer unsichtbaren Wand umgeben. Alles Leben außerhalb ist wie eingefroren, erstarrt. Mit Luchs, dem Hund, der Hugo gehört, ist sie eingeschlossen. „Wir waren nicht ganz verloren, weil wir zu zweit waren.“ Sie hat noch ein paar Zigaretten, jede Menge Streichhölzer, Kugelschreiber und Bleistifte, draußen vor dem Haus auf der Rampe zur Scheune ist viel Holz gestapelt. Das Bühnenbild ist der Ort an sich und die Umgebung. Es ist ganz nach der Theaterphilosophie des Café Fuerte gebaut „kleine Orte, großes Theater“. Damit wird der Blick auf das Schauspiel von Kristine Walther und die Bewegungen der Tänzerin Eve Ganneau, das auf der insgesamt einen Quadratmeter großen Holztisch-Bühne stattfindet, konzentrierter und auf das Wesentliche reduziert und komprimiert. Damit wird „die große Unordnung, die über mich hereingebrochen war“, sagt die Frau ohne Namen, deutlich spür- und nachvollziehbar. Deren emotionale Innenwelt, manchmal glasklar, dann wieder schräg und verzerrt, wird an einzelnen Stellen durch das Gläserspiel von Florian Wagner begleitet, ein Idiophon, das aus Reihen von angeordneten mit Wasser gefüllten Trinkgläsern besteht, die der Musiker durch kreisende Bewegungen mit dem nassen Finger am Rand zum Klingen bringt.
Die Bühnenversion
Das bewegte Innen wird wiederholt nach außen übersetzt und bildet einen fortlaufenden Erzählstrang. Im Außen werden diese inneren Bilder von der Tänzerin Eve Ganneau, die wie das Alter Ego der Schauspielerin erscheint, wie auf einem parallelen Spiegel transformiert und in den tänzerischen Gesten verlängert. Die Erzählerin ist ganz auf sich allein gestellt, richtet sich in ihrer abgeschiedenen Welt ein, arbeitet sich durch den jahreszeitlich wechselnden Alltag voller Anstrengungen, mit Luchs, dem Hund, und einer Kuh, die dort auf dem Hof war. Doch immer wieder funkeln kontrastierend Momente von großer Ruhe und Kontemplation auf, die von der dahinter fließenden Bolgenach monoton begleitet werden. Bis auf das Schauspiel, den Tanz und die Musik ist alles schon da. Das Übrige besorgt die Umgebung, die Natur am Spielort, die als ein Schauspiel für sich den Text nochmals reduziert und von allem attributisierenden Beiwerk freistellt. Alle Bewegungen aus dem Alltag der Protagonistin, alle situativen Ereignisse um den Hund, die Kuh, später das Kalb, die Katze, setzen die Erzählung und das Schauspiel fort.
Beim Zuschauen und Zuhören ist man selbst ständig in dieser Konfrontation mit dem einerseits attraktiv scheinenden Anteil des Alleinseins in dieser Abgeschiedenheit, andererseits wird einem angst und bange, als die Erzählerin auf der Bühne von ihren Zahnschmerzen berichtet, die durch die Geräusche der Gläser am Rande des Erträglichen erscheinen. Auch in diesem Segment des Berichts gibt es Sprechanteile, die nach innen gerichtet sind und die grandiose Schauspielerin Kristine Walther wie in ein gläsernes Nichts des mittlerweile dunklen Himmels spricht, und nur die Sorge um ihre Tiere ins offene Halbrund des Theaterraums herüberschwingt, und die Freiheit, wie sie sagt, nur auf dem Papier existiert. Dieser Jahresablauf animiert sie zu Gedanken über den Lauf des Lebens, „geboren werden und sterben“, Datumsangaben tauchen auf, am 2. Juli berichtet sie von den viertausend Zündhölzern, die für eine bestimmte Anzahl von Jahren ausreichen würden. Die Erzählschritte sind eingeordnet im Zeitkontinuum des Jahres, einzelne Tage bilden Strukturelemente; der 20. Juli wird im Bericht zum Erzählanlass, was sie an diesem Tag gearbeitet hat, Heuernte. Oder der 2. Oktober, der Tag, an dem sie die Erdäpfel erntet. Und über allem stellt sie fest: „Neben der Pflicht gegenüber der Familie konnte ich ruhig vergessen, dass ich eine Frau war.“
In diesen verschiedenen synchronen Ichs der Erzählerin, die nahezu permanent von der Tänzerin Eve Ganneau, die aus einem faszinierenden Bewegungsrepertoire schöpft, gespiegelt werden, zumeist in identer Kostümierung, gibt es einen existenziellen Fokus, den sie wie nebenbei erzählt. Wenn sie über ihre Überlebensstrategie philosophiert und die Dunkelheit die Angst, die sie besonders in der Nacht spürt, sie hellwach macht und unruhig werden lässt. Das wird die Zeit, in der die Vergangenheit sie einholt. Alles Geschehen ereignet sich auf dem Tisch, der in seiner Beengtheit ein Stück weit die Begrenzung der Wand reflektiert. Da hat auch das Schöne, wie ein Sonnenaufgang, Platz.
Sprache und Existenz
Sprachlich ist die Bühnenversion präzise gefasst, alles Nebensächliche ist weggelassen, reduziert auf das jeweilige Momentum der Protagonistin. Schauspielerisch erleben wir eine ganz besondere Leistung von Kristine Walther, deren in den Nachthimmel gesprochenen Worte sich wie intime Tagebucheintragungen anhören, bald philosophisch funkeln, danach, besonders in den existenziellen Phasen, als atmosphärisches Seelenbild die Besucher*innen in ihrem eigenen Inneren berühren. Dadurch entstehen diese synchronen Ichs, die auf vielfache Weise ausgelegt werden können, „der Roman kann als Zivilisationskritik gelesen werden, als Metapher für die Einsamkeit des Menschen, als Aufbegehren gegen das Patriarchat, als Ausdruck der Sehnsucht nach einem harmonischen Zusammenleben mit der Natur, als Robinsonade, als Endzeit-Phantasie. Wie jedes wirklich große Werk entzieht sich der Roman letztlich einer solchen Kategorisierung und bleibt ein großes Stück Literatur. ( … ) Der technische Fortschritt bestimmt immer mehr unser Leben. Gleichzeitig wächst bei vielen die Sehnsucht nach einem ursprünglichen, echten Leben, was auch absurde Auswüchse annehmen kann. Aber gibt es das überhaupt? Und würden wir so ein Leben noch aushalten? Hier werden diese Fragen mit unglaublicher Wucht gestellt. Ein Text, der einen umhauen kann“, schreibt Tobias Fend im Programmheft. Das Ende bleibt offen. Sie ist bereit für das was kommt: „Wenn die Zeit ohne Zündhölzer und ohne Munition kommt, werde ich auch dafür eine Lösung finden.“ Auf der winzigen Bühne gibt es einen Musiker, der mit seiner Gläsermusik das Filigrane und Zerbrechliche der Realitäten hereinbringt, zwei Schauspielerinnen für das hochkomplexe und mitunter schnell wechselnde Bühnengeschehen, mit einer Tänzerin, die über die Bewegung die Stimme der Schauspielerin dazu stellt, präsentieren diesen Bericht – Ich = Zwei. Alle Themen, die tiefe Einsamkeit und unüberwindbare Begrenzung werden einen kurzweiligen Abend lang spielerisch variiert. Man kommt mit Fragen zu diesem Abend. Das Ensemble des Café Fuerte zaubert mit einer wunderbaren Inszenierung noch eine Reihe von Sternen an den Himmel.
Café Fuerte
Aus dem Statement: Café Fuerte macht seit 2012 Site-Specific Theater zu aktuellen Themen an besonderen Plätzen im ländlichen Raum in Vorarlberg und dem Appenzell. Theater wird ganzheitlich gedacht. Für jedes Stück wird der genau passende Spielort gesucht. Umgebung, Inszenierung und Text ergeben ein zwingendes, ortsbezogenes Gesamtkonzept. Café Fuerte ist ein grenzübergreifend tätiger Verein mit Sitz in Hittisau und wird von Danielle Fend-Strahm und Tobias Fend geleitet. 2016 wurde Café Fuerte mit einer Prämie des Bundeskanzleramtes ausgezeichnet.