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Peter Niedermair · 05. Mai 2021 · Theater

"SCHLAFES BRUDER" von Robert Schneider - Theaterfassung für das Vorarlberger Landestheater von Teresa Rotemberg und Ralph Blase, Premiere 5. Mai 2021

Bald dreißig Jahre nach Erscheinen von Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“ 1992 im Reclam-Verlag Leipzig hat sich mit der dramaturgischen Version am Vorarlberger Landestheater, Inszenierung, Choreografie & Fassung Teresa Rotemberg, ein Stück weit auch die Rezeption des Romans in ein etwas anderes Licht entwickelt. Die Spots dafür eingeschaltet haben das Team des Landestheaters unter Intendantin Stephanie Gräve, die in ihr Programm wiederholt auch originär vorarlbergische Stoffe sowie AutorInnen und Autoren mit aufgenommen hat, wie jüngst die Perspektive auf Franz Michael Felder des in Wien lebenden Bregenzer Schriftstellers Max Lang, und nun auch Teresa Rotembergs und Ralph Blases Auseinandersetzung mit „Schlafes Bruder“. Die Premiere fand vor gut einer Woche am 29. April statt, ich habe die Aufführung am Sonntag, 2. Mai um 15 Uhr gesehen. 95 Theaterminuten, die allen Covid-Maßnahmen sehr gewissenhaft folgten, eine Inszenierung, die ich sehenswert fand und weiterempfehle. Es wird auch Streaming-Version von der Fassung geben.

Das Team am Landestheater hat den hochkomplexen Romantext, den Robert Schneider aus Meschach oberhalb von Götzis als Dorfidyll in „Schlafes Bruder“ ins 19. Jahrhundert zurückversetzt hat und in einer cleveren „Mimikry“ an den Ton und den Stil der Zeit die an sich traurige Geschichte vom genialen Außenseiter auf dem finsteren Lande erzählt, auf die Theaterbühne gestellt. „Robert Schneider hat in seinem Roman ein vermeintlich archaisches Universum portraitiert, in dem die sogenannten natürlich (bäuerlichen) Gefühle von Kraft und Bedeutung haben sollen.“ Vgl. Iris Radisch: Schlafes Brüder. Pamphlet wider die Natürlichkeit oder Warum die junge deutsche Literatur so brav ist. In: Die Zeit, Nr. 46/1992. „Der Held wird vom ‚Stein gerufen‘, ist einer Frau ‚seit Ewigkeit vorbestimmt‘ oder wird vom Herrgott ‚hörend gemacht‘. Der Autor scheut sich nicht, in seine gottesfürchtige Stimmenimitation kraftvolle Theorien über das ‚Wesen des Genies‘ oder die ‚Erlösung‘ des Menschen einzuflechten. Aber seine historische Stilübung ist ein Trick und Schneider ein gerissener Spieler, der, weil er gescheit ist, natürlich nicht die ‚wirklich‘, sondern eine Art zweite ‚Authentizität‘, eine Unmittelbarkeit aus zweiter Hand, entwerfen will.“ Auf der Bühne erlebt das Publikum ein ziemlich dicht inszeniertes Stück, in dem die Sprache des Romans weiterhin von zentraler Bedeutung ist. „Durchaus naheliegend wären im Fall einer Romanbearbeitung Überlegungen, aus Erzähltexten Szenen und Dialoge zu formen und dazu Texte in die direkte Rede zu übertragen. Genau dieser Weg wurde nicht gewählt, um ein herausragendes Merkmal des Romans SCHLAFES BRUDER, das in seiner Sprache liegt, auch in der Theaterinszenierung erfahrbar zu machen.“ So wurde am Text nahezu nichts geändert, wenn man die beiden Versionen vergleicht. Die Inszenierung überzeugt mit sehr viel Energie und fasziniert durch eine Reihe von szenischen Abfolgen, die diesen Meschacher Kosmos, den er Autor an den Beginn des 19. Jahrhunderts stellt.

Dort wird Anfang des 19. Jahrhunderts der Protagonist Johannes Elias Alder (genannt Elias) in diesem winzig kleinen vorarlbergischen Dorf geboren, dessen Bewohner seit vielen Jahren nur zweierlei Nachnamen aufweisen. Als leiblicher Sohn des Kurats wächst er im Hause des Seff Alder, des Ehemanns seiner Mutter, auf. Von seiner Mutter abgelehnt und die ersten Jahre im Zimmer eingesperrt, erlebt er im Alter von fünf Jahren eine Verschärfung seines Gehörs, die ihn in eine mehrminütige Trance fallen lässt. Während dieses Hörerlebnisses pubertiert er lange vor der Zeit, die Iris seiner Augen färbt sich gelb, was ihm die nicht gerade löblichen Namen „Mannkind“ und „Gelbseich“ einbringt. Von diesem Zeitpunkt an ist er besessen von der Liebe zu einem ungeborenen Kind, dessen Herzschlag er aus dem Dorf vernommen hat. Monate später stellt sich heraus, dass es seine Cousine Elsbeth ist. Herzschlagende Töne waren 1992 in der Kunst, vor allem in der Musik aus der Komposition „Oh Superman“ von Laurie Anderson längst bekannt. Wenngleich die später mit Lou Reed verheiratete Komponistin und Allround Künstlerin, die mit Phil Glass an der Kitchen in der 19ten Straße in Manhattan bekannt wurde, die diese Töne in einem wesentlich anderen politischen Kontext auf Teheran bezogen eingespeist hatte, die in einem  Kreissaal am Saint Vincent Hospital in New York, wo auch Oliver Sacks als Neurologe arbeitete, Herztöne eines neugeborenen Kindes, aufgenommen.  

Ein postmoderner Heimatroman

Johannes Elias Alder ist ein sensibler Außenseiter, der mit seinem musikalischen Genie und seiner schicksalhaften Liebe alleingelassen wird – von aller Welt und von Gott. Schlafes Bruder erzählt die Geschichte dieses strahlenden Talents in düsterer Alpenlandschaft auf so berückende wie bedrückende Weise. Das kaum zu ertragende Leben des Elias Alder wird mit der zürnenden Stimme eines Erzählers berichtet, der wohltuend Partei für den tragischen Helden ergreift und mit seinem Sarkasmus die Niedertracht des bäuerlichen Milieus erträglicher macht. Er tut dies in einer Sprache von hoher Musikalität, von verstörender Derbheit und schillernder Schönheit zugleich. Elias besitzt eine hohe Begabung für die Musik. Er übt seine Stimme, bis er in der Lage ist, in allen erdenklichen Tonlagen zu singen und fast alle Dorfbewohner zu imitieren. Peter, sein gleichaltriger Cousin und Elsbeths Bruder, ist auf homophile Weise von Elias fasziniert. Später, als sich Elias, fasziniert von der dürftigen Orgelmusik während der Gottesdienste, nachts in die Kirche schleicht, um sich selbst das Orgelspiel beizubringen, wird Peter sein Balgtreter.

„Föhnstürme und Klangwetter“

Das Buch wurde bisher in 36 Sprachen übersetzt und ist bisher in 41 Auflagen im deutschsprachigen Raum erschienen. Mit Erich Hackls hatte damals ein österreichischer von internationaler Bedeutung und Rang am 1. Oktober 1992 in der „ZEIT“ eine Laudatio auf Robert Schneider gehalten, der mit seiner Positionierung das Spektrum von  Rezeptionsvarianten auf der zusprechenden Seite markierte. In diese selbe Richtung schrieb Beatrice von Matt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Oktober 1992 unter dem Titel „Föhnstürme und Klangwetter“.

Die Zeit der Handlung spielt zwischen 1803 und 1825, umfasst also genau die Lebenszeit des Helden. Mit diesen genauen Angaben soll, wenngleich die Geschichte frei erfunden ist, der Wahrheitsgehalt untermauert. Der Held steht prototypisch für einen Menschen, dessen Genie verkannt wird. Neben stark gerafften Zeiträumen gibt es auch solche, die sehr detailliert erzählt werden, die Geburt, das Erlebnis am wasserverschliffenen Stein, die Geschichte, in der Burga genarrt wird .... In den zuletzt genannten Beispielen liegt eine Deckung von erzählter Zeit und Erzählzeit vor. Zudem fallen viele Rückblicke und Vorgriffe auf, wobei der Autor mit der Chronologie sehr frei umgeht.

Die Geschichte des Außenseiters im Dorf

„Obwohl sie einander in inniger Freundschaft zugetan waren, verheimlichten sie einander doch ihre bedeutsamen Gefühlsregungen - Die Geschichte von Johannes Elias Alder, der im Jahr 1803 in einem Dorf im Vorarlbergischen das Licht der Welt erblickt, erzählt von seiner hohen Sensibilität, seiner ausgeprägten Fähigkeit des Hörens, seinem damit verknüpften musikalischen Talent, das in seinem virtuosen Orgelspiel Ausdruck findet. Obwohl er sogar zwischenzeitlich die Ämter des Organisten und des Dorfschullehrers ausübt, bleibt Elias ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft. Erzählt wird von seiner großen Liebe zu Elsbeth, der er diese aber nie wirklich vermitteln kann …“ Programmheft Vorarlberger Landestheater, S. 4

Im Romantext von Robert Schneider kommen reale Schauplätze vor. Neben Innsbruck werden Ortschaften im vorarlbergischen Rheintales genannt, deren Namen aber verballhornt sind. Feldberg = Feldkirch; Götzberg = Götzis; Dornberg = Dornbirn; Altig = Altach; mit Eschberg ist der zur politischen Gemeinde Götzis gehörende Ort Meschach gemeint, in dem Schneider aufgewachsen ist und heute zeitweise wieder wohnt. Mit diesen in der Wirklichkeit existierenden Orten gibt Schneider vor, dass die erzählte Handlung sich so abgespielt habe, mit auffälligen Parallelen zum eigenen Lebenslauf. Im strengen thematisch-inhaltlichen Sinn liegt ein kaum variiiertes einheitliches Milieu vor. Die offenbar wohlhabenden und angesehenen Zuhörer im Feldberger Dom spielen keine Rolle, alle anderen gehören dem Bauernstand an, sogar Kurat Benzer und der Lehrer Oskar Alder bewirtschaften ein Anwesen. Sie alle sind arm und ungebildet. Im vorliegenden Werk werden also keine sozialen Gegensätze thematisiert.

Auszüge aus dem Theatertext

Theatertext Seite 2: „Der Chor im Prolog (Ensemble, ohne ELIAS) Wer liebt, schläft nicht – denn im Schlaf sei man tot, jedenfalls lebe man nicht wirklich. - Die Beschreibung seines Lebens ist nichts als die traurige Aufzählung der Unterlassungen und Versäumnisse all derer, welche vielleicht das große Talent dieses Menschen erahnt haben, es aus Teilnahmslosigkeit, schlichte Dummheit, oder aus purem Neid verkommen ließen. ALLE (ohne ELIAS) Überdies gefiel es Gott, den Johannes Elias mit einer solchen Leidenschaft nach der Liebe auszustatten, dass davon sein Leben vor der Zeit verzehrt wurde.“ Seite 3 „Was aber das Schlimmste ist: Als die Begabung dieses Menschen längst offenkundig war, wollte es noch immer niemand begreifen.“ Seite 4 SEFFIN „In der Nacht erwachte das Kind vom bloßen Klang der niedergehenden Schneeflocken. Sprang es zum Fenster und öffnete es. Seite 12 SCHAUPREDIGER Ich lieb’ dich, egal wie das klingt. Ich lieb’ dich, ich weiß, dass es stimmt. Denn ich lieb’ mich bei dir. Ich lieb’ mich an dir. Ich lieb’ mich in dir fest. Der Schauprediger Corvinus Feldau von Feldberg, – gewiss ein Pseudonym – kam zu Palmsonntag ins Dorf und hielt vor dem Kirchlein eine Schaupredigt. Ich bin der Apostel der Liebe. Nichts zählt mehr in der schnöden Welt, denn die Liebe. Es gilt kein Gesetz mehr. Jeder, alt und jung, soll sich dem Rausch der Wollust hingeben. ‚Freue dich des Weibes deiner Jugend, sie ist lieblich wie eine Hinde und holdselig wie ein Reh. Lass dich ihrer Liebe allzeit sättigen und ergötze dich allewege in ihrer Liebe‘. Die Ehe sei, das schwöre er, der Apostel der Liebe, für immer aufgehoben. Die Welt sei von den Fesseln erlöst. Wer ein Weib hat, nehme es und lasse nicht mehr von ihm ab. Die Kinder sollen sich begatten und die Greisen. Begehre ein Weib zwei Männer, so nehme sie getrost deren drei. Begehre ein Mann das Weib des andern, das Rind oder die Kuh, so sei es. ‚Nicht einen Augenblick dürft ihr ruhen!! Wer auch nur eine Stunde seines Lebens ohne Liebe zubringt, dem wird sie im Fegefeuer zugeschlagen. Nicht mehr schlafen dürft ihr, denn im Schlaf liebt ihr nicht. Seht mich an!! Seit zehn Tagen und Nächten schlafe ich nicht mehr!! Wer schläft, liebt nicht!‘“ – All der Text kann gut für sich stehen. Der Text ist autonom.

Sprache und Stil - Es ist alles eine Sache des Hörens

Schneiders Sprache ist eine mit Dialekt Elementen gefärbte archaisierte Kunstsprache mit zahlreichen eigenen Wortschöpfungen. „Der Text ist durchsetzt von Sätzen in indirekter Rede. Einerseits verwendet Schneider viele altertümliche Begriffe, andererseits auch Dialektworte, die aus dem Vorarlbergischen stammen. Ein weiterer besonders auffälliger Punkt in Schneiders Ausdrucksweise ist das überdeutliche Verwenden von Synästhesien, die zumeist mit (steigernden) Wiederholungen ausgeschmückt sind (Klangwetter, Klangstürme, Klangmeere, Klangwüsten).“ Manche Gedanken und Sätze erinnern an romantische Jugendliebe-Lyrik, andere klingen gespreizt und irgendwie aus anderen Sphären. An der Höhenluft kann es nicht liegen, so hoch liegt Meschach nicht, auch wenn man noch höher steigt und über die Millrütte weiter ins Ebnit wandert, da bleibt Luft genug.

Der Aufbau der Geschichte ist symmetrisch, was sich auch in den Kapitelüberschriften widerspiegelt. Ein markantes Beispiel dafür sind die zwei Großbrände, die Eschberg fast vernichten und die am Anfang und am Ende des Romans vorkommen. Der Roman besteht aus 19 Kapiteln von unterschiedlicher Länge. Die Geschichte Elias’ – von seiner Geburt bis zum Tod – ist in einen doppelten Rahmen gesetzt. Das erste Kapitel „Wer schläft, liebt nicht“ und das letzte „Frau Mutter, was meint Liebe?“ bilden den äußeren Rahmen. Das Leben des Elias wird von einem allwissenden auktorialen Erzähler geschildert, der den Leser stellenweise direkt anspricht. Oft scheint der Erzähler sogar die Gedanken des Lesers zu kennen. Dadurch wird Nähe zu ihm aufgebaut. Gegen Ende des Romans wird der Leser sogar als guter Freund bezeichnet. Schlafes Bruder etabliert die Musik als das wahrhaft Heilige im Gegensatz zur Religion. Elias ist ihr Vertreter auf Erden. Der Text bildet Musik in der Sprache ab und ist an diesen Stellen vollkommen frei von Ironie, während Beschreibungen von Klerus und Kirchgängern mit bissigem Sarkasmus Doppelmoral und Falschheit entlarven. Darin ist eine scharfe Religions- und Zivilisationskritik enthalten.

Auf der Bühne und hinter den Kulissen

Johannes Elias Alder – Luzian Hirzel
Peter Elias Alder – Nico Raschner
Elsbeth Alder – Maria Lisa Huber
Seff Alder – Tobias Krüger
Agathe Alder, genannt Seffin – Natalina Muggli
Hebamme – Maria Lisa Huber
Oskar Alder – Nico Raschner, Mario Levstok (in Weihnachtsmette)
Schauprediger Corvinus Feldau von Feldberg – Tobias Krüger
Burga – Natalina Muggli
Kurat Elias Benzer – Nico Raschner
Erscheinung in Kirche – Natalina Muggli
Friedrich Fürchtegott Bruno Goller – Tobias Krüger
Virgina Alder, genannt Nulfin – Maria Lisa Huber
Nulf Alder – Winfried Szymnau
Kinder – Natalina Muggli, Tobias Krüger
Dorfbewohner:innen von Eschberg – Ulrike Hampel, Stephanie von Hoyos, Mario Levstok, Susanne Sustersic, Winfried Szymnau, Elisabeth Türk-Saggel, Ernst Walser (Mitglieder des Bürger:innenchors) und Luzian Hirzel, Maria Lisa Huber, Tobias Krüger, Natalina Muggli, Nico Raschner

Inszenierung, Choreografie & Fassung – Teresa Rotemberg
Bühne & Kostüm – Sabina Moncys
Musik – Marcel Babazadeh
Orgeleinspielungen – Pater Theo Flury
Licht – Arndt Rössler und Simon Tamerl
Dramaturgie & Fassung – Ralph Blase
Regieassistenz – Angela Dockal
Ausstattungsassistenz – Leslie Bourgeois
Inspizienz – Eva Lorünser
Koordination Bürger:innenchor – Stefanie Seidel und Susanne Sustersic

Sehr interessant fand ich die Orgelmusik. Die in der Inszenierung verwendeten Orgelmusiken wurden von Pater Theo Flury an der Mauritiusorgel der Stiftskirche des Kloster Einsiedeln eigens für die Produktion SCHLAFES BRUDER am Vorarlberger Landestheater eingespielt und dort von Marcel Babazadeh aufgenommen. Sämtliche Einspielungen sind Improvisationen von Pater Theo Flury über Themen und Motive aus dem Roman SCHLAFES BRUDER.

Weitere Vorstellungen Mi 5. |Do 6.|Fr 7.|Sa 8.|So 9. Mai, 18.00 Uhr Fr 7.|Sa 8.|So 9. Mai, 15.00 Uhr
Online-Premiere: 14. Mai 2021, 19.30 Uhr, YouTube-Kanal des Vorarlberger Landestheaters
www.landestheater.org