Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Walter Gasperi · 29. Nov 2018 · Theater

Nur der Weihnachtsstern leuchtet – Temporeicher, aber düsterer „Oliver Twist“ am Vorarlberger Landestheater

In einer Version für Kinder ab 6 Jahren und einer 30 Minuten längeren für alle ab 12 Jahren hat Ingo Berk Charles Dickens´ Klassiker „Oliver Twist“ für die Bühne adaptiert. Gedanken an die Weihnachtsstücke der letzten Jahre oder Jahrzehnte sollte man dabei aber Zuhause lassen, denn Berk entführt der Vorlage entsprechend in eine düstere und kalte Welt von Armut, Gewalt und Ausbeutung.

Heftig und direkt ist der Einstieg mit der Essensausgabe im Waisenhaus. In kaltes Blau und Grau ist dieser Auftakt getaucht, um Sterben und Tod dreht sich das Gespräch von Oliver (Luzian Hirzel) und dem stets hustenden, den nahen Tod ahnenden Dick (David Kopp). Mitleidlos zeigt sich die Leiterin des Waisenhauses (Kornelia Lüdorff), macht Witze über das Schicksal der Kinder, erklärt, dass sie ihnen zur Stärkung auch immer mal Gin in den Tee mischt und verkauft Oliver auch sogleich an den Bestattungsunternehmer (Felix Defèr), bei dem der zehnjährige Junge in die Lehre gehen soll.

Rasante Szenenfolge

In der Atmosphäre und im Ton, die hier angeschlagen werden, geht es weiter, schwer kann man sich angesichts der 130-minütigen „Erwachsenenfassung“ vorstellen, dass eine gekürzte Version wirklich kindgemäß sein kann. Zwar gibt es ein knappes Happy-End, doch davor gibt es kaum etwas zu lachen, kaum einen Moment der Entspannung. Friedliche und heimelige Stimmung kommen hier kaum einmal auf, vielmehr dominieren Armut, Gewalt und Ausbeutung. - Der Vorlage entspricht das zweifellos, doch ob dieser „Oliver Twist“ als dezidiert angekündigtes „Stück zur Weihnachtszeit" wirklich passt, darf man bezweifeln.
Großartig hat Ingo Berk Dickens´ 1839 erschienenen Roman auf markante Szenen verdichtet, treibt die Handlung mit großem Tempo voran. Langeweile kommt hier sicher nicht auf, allerdings wirkt manche Szene, vor allem gegen Ende hin, in der Verkürzung auch holzschnittartig.
Wenig Raum bekommen bei dieser dichten Szenenfolge auch die sechs Schauspieler, die in 18 Rollen schlüpfen, ihren Figuren wirklich Profil zu verleihen. – Die Handlung steht im Mittelpunkt, die Charakterisierung, die Herausarbeitung von Gefühlszuständen tritt in den Hintergrund, womit sich die Frage stellt, ob sich große Romane wirklich für die Adaption fürs Theater eignen.

Typen statt Charaktere

Mit großem Einsatz spielen Luzian Hirzel, Felix Defèr, Kornela Lüdorff, David Kopp, Johanna Lüdorff, Johanna Köster, Andreas Gaida, aber mehr als durch das Spiel werden sie durch Kostüme (Eva Krämer) und Maske definiert. Angst verbreitet da ein Polizist allein schon durch den dunkelgrauen Ledermantel und seine Mütze, die an SS-Offiziere erinnern, blaue Haare, Minirock und Netzstrümpfe machen Nancy (Johanna Köster) zum Teenager am Rand der Gesellschaft. Hochgeschlossener Mantel, dunkler Hut sowie ruhige Sprache lassen Monks (Luzian Hirzel) bei jedem Auftritt als beunruhigenden, im Hintergrund die Fäden ziehenden Gangster mit lange unklaren, aber geschickt angedeuteten Absichten erscheinen, Morgenmantel und lange Koteletten vermitteln die Schmierigkeit von Fagin (Felix Defèr), für und mit dessen Bande Oliver Twist (Luzian Hirzel) stehlen soll.

Intensive düstere Atmosphäre

Eindrücklich und atmosphärisch dicht beschwören Eva Krämers wandelbare Bühne, die Lichtführung von Arndt Rössler und die Musik (Patrik Zeller) die düstere und kalte Welt, in der diese Figuren leben. Mit einer schnellen Drehung der Kulisse taucht so der Zuschauer nach der Waisenhausszene in die grauen Straßenfluchten von London ein. Ebenso einfach wie genial lassen sich hier immer wieder Hauswände aufklappen und bieten so Einblicke in die Wohnungen von Fagin, des Gaunerpärchens Sykes und Nancy oder Mrs Mayle, die sich als Einzige um das Wohl Olivers sorgt und sich für ihn einsetzt.
Mag auch in der Wohnung von Mrs Mayle ein Gefühl für Geborgenheit aufflackern, überlagert wird das doch von der Dominanz der Unterwelt. Viel faszinierender und spannender als diese aufgeräumte bürgerliche Welt sind eben diese dunklen, von Neonröhren erhellten und immer wieder mal in Nebel getauchten Straßen, die auch einmal ein Hubschrauber überfliegt, auf denen im Hintergrund Polizeisirenen von Verbrechen künden, und dazwischen kalte Elektromusik immer wieder eindrücklich Bedrohung und Gefahr evoziert.

Jugendgemäß abseits von political correctness

Den Retro Chic der Straßenfluchten kombinieren Berk und seine Kostümbildnerin dabei perfekt mit modernen Requisiten von Smartphones bis VR-Brille. Nah an der Jugend und der Unterschicht von heute ist die Inszenierung auch in der Sprache, wenn Fagin immer wieder von „Weibern“ oder auch mal von „in die Fresse hauen“ spricht. Und auch Alkohol fließt nicht zu wenig. Und während in Filmen kaum mehr eine Figur rauchen darf, pafft hier der Inspektor lustvoll seine Zigarre. – Einen frechen Bruch mit der stets geforderten political correctness kann man darin sehen, Weihnachtsstimmung verbreitet hier aber nur ein einzelner leuchtender Weihnachtsstern, der auch als bissiger Kommentar gelesen werden kann zum Widerspruch zwischen dem allerorts und alljährlich in dieser Zeit beschworenen Frieden und dem gleichzeitig doch weiterhin bestehenden weltweiten Elend mit Ausbeutung und Kinderarbeit.

Weitere Vorstellungen: https://landestheater.org/spielplan/stuecke/detail/oliver-twist/