Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Niedermair · 10. Jul 2020 · Theater

Im Kosmodrom des Theater Kosmos: „Infantizid, Femizid, Suizid“ oder „Als Kind hat man blaue Flecken, weil man klein ist und ungeschickt und oft hinfällt.“ Von Felix Kalaivanan und Amos Postner - Premiere am 9. Juli 2020

Vor sechs Jahren haben die beiden Theaterleiter des Theater KOSMOS Bregenz Hubert Dragaschnig und Augustin Jagg für ihre Spielstätte „Kosmodrom“ erstmalig einen Stückewettbewerb für junge AutorInnen und TheatermacherInnen ausgeschrieben. Die Besetzung darf max. 5 Figuren betragen und das Stück zwischen 30 und maximal 60 Minuten dauern. In dieser Reihe wurde am gestrigen 9. Juli das eingangs genannte Theaterstück aufgeführt, sehr zum Gefallen des Publikums.

Es treten auf: Wini Gropper als Matthäus, Immobilienmakler, Simon Huber als Ulrich, Kameramann, Corinna, Sabine Lorenz als Reporterin und Johannes Rhomberg als Hans-Peter, Inhaber des Cafés; Regie: Stephan Kasimir.

Schauplatz:  Die Bühne des Theater Kosmos - Intro: „Ein Kaffeehaus, eigentlich ganz normal eingerichtet – Stühle, Tische, Tresen –, aber hier hat ein Blutbad stattgefunden. Der Boden und die Tische sind voller Blut, das so zähflüssig ist, dass jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch macht und blutige Fäden nach sich zieht wie ein Käse-Fondue. Auch die Wände sind beschmiert, unter anderem klebt an ihnen eine geleeartige Substanz, die mit viel Phantasie als Hirnmasse zu identifizieren ist. Irgendwo im Hintergrund schwimmt eine gelbe Gummiente in diesem Meer aus Blut. Die auftretenden Figuren tragen Tatortreinigungsklamotten, benehmen sich aber ansonsten völlig normal, außer wenn die „Splatter“-Ausstattung die Ausführung der Regieanweisungen verkompliziert (etwa wenn Gegenstände ob des Kunstblutes nur schwer von den Oberflächen abzulösen sind). Die Bühnenränder sind mit Polizeiabsperrband gesichert. Früh am Morgen. Matthäus wischt den Boden. In der Ecke stehen griffbereit ein Kübel samt Putzlappen und Handtuch. Man könnte meinen, im Kübel befindet sich Wasser, doch tatsächlich handelt es sich um noch mehr Kunstblut. Das Putzen hat also keine reinigende Wirkung, was Matthäus aber offensichtlich nicht bemerkt. Auf einem der blutverschmierten Tische liegt eine Zeitung, voller Blutflecken.

Am Tatort des Verbrechens

Die Autoren sind die beiden jungen Vorarlberger Felix Kalaivanan und Amos Postner. In einer guten halben Stunde leuchten sie in ihrem offensichtlich dialogisch entwickelten Text mit komplexer Raffinesse verschiedene Blickwinkel eines Tatorts aus, das in der Regie von Stephan Kasimir zu einem Theaterstück von ganz besonderer Qualität wird. Hohe Pulsfrequenz, dicht, schnell, die Rollen optimiert, sehr plastisch herausgearbeitet und profiliert, sprachlich klar, hervorragend gespielt, das Stück: erste Liga Theater Kosmos.

Der medial-öffentliche Blick auf das Verbrechen, dessen Spuren überdeutlich überall in diesem Ortscafé sichtbar sind, setzt die vier Personen vor Ort mit der Bluttat in Beziehung.  Das Bühnenbild ist reduziert in Weiß gehalten, die mit Rot verschmierten Wände und Möbel des Caféraums sollen auf eine Bluttat, die im Laufe des Stücks nicht näher aufgeklärt oder besprochen wird, hinweisen. Dieses unscheinbare Ortscafé gehört zum Dorfbild aller Kommunen, die so unscheinbar existieren; 5000 BewohnerInnen, deren einer oder eine man sein könnte, wenn man nicht zufällig woanders wohnte. Man geht in ein solches Café hinein auf einen Ristretto, wenn man grad zufällig davor steht, jemanden getroffen hat und nur fünf Minuten Zeit hat. Sie fallen einem dann auf, wenn man eines Abends nach Hause kommt und in den Frühnachrichten, wie in xy-heute im regionalen Fernsehkanal erfährt, dass sich dort, genau an diesem Ort, eine blutige Tat ereignet hat und nach den Tätern gefahndet wird.
In diesem nach einem Bauplan reflektierter Abwägungen konstruierten Stück der beiden Autoren, die beide in Wien studieren, ist eine besondere Entscheidung grundbedeutend; ungleich den Regieplänen eines „Tatort“ zoomen sie nicht in die brutale, kaltschnäuzige Tat, deren Motive und Hergang, die Tatwerkzeuge, die Flucht der Täter, die Erstversorgung der Opfer und den Schock der Zurückbleibenden, sondern auf das, was medial im zeitlichen Danach stattfindet. Mit dem medialen Blick auf das Verbrechen tauchen eine Journalistin mit einem Kameramann, der Inhaber des Cafés und ein Immobilienmakler auf. Der Fokus ist nicht auf die Tat gerichtet, sondern in völlige andere Bereiche abgedriftet. Die einzelnen Charaktere mit ihren Interessen und

aktuellen persönlichen Verwertungsabsichten

stehen im Zentrum dieser halbstündigen Begegnungen. Unter dem psychologischen Figurenskalpell bleiben die Personen auf der Bühne in ihren Emotionen, ändern sich im Laufe des Geschehens nicht oder höchstens einen Millimeter, eher verharren sie in ihren Grunddispositionen, egoistisch, eigentlich bedauernswert und in keiner Weise empathisch. Der mediale Blick legt die Sensationslüsternheit der Reporterin offen, der Kameramann, der auf die schnelle, bildgeile Position der Kamera schielt, der Makler, der nichts als die weitere Verwertbarkeit der Immobilie, deren Weiterverkauf, im Schädel hat, der Inhaber des Cafés, der keine Sprache für das Verbrechen findet und eigentlich hilflos an diesem von einem Polizeiband eingezäunten Tatort zurückbleibt. Er ist die Figur, die deutlich in einer individuellen Erschütterbarkeit auftaucht. Der Tatort wie die Tat selbst, nach dem eigentlichen Verbrechen, bleiben unaufgeklärt, das Verbrechen an sich wird auf der Bühne gar nicht abgehandelt, weil alle schon längst woanders sind.
In diesem Kosmodrom ist Theater im besten Sinne Laboratorium, Experimentierraum, von altgriechisch théatron, Schaustätte, jener Ort, an dem der Regisseur Optionen, Varianten, Umwege, Seitenblicke, Unbekanntes und vieles mehr versuchen kann, auch Figuren – wie es lebenspraktisch schön wäre und sein kann, wenn Menschen auswählen können, in welche Richtung sie gehen möchten, als Element of Choice, in einer Position der Entscheidungsvielfalt. Dieses Theater Kosmos-Laboratorium, der Theaterraum an sich, bietet jungen AutorInnen aus der Literatur und darstellenden Kunst Möglichkeiten, sich und ihre Interessenslagen auszuprobieren, erste und weitere Schritte eines künstlerischen Wegs zu gehen. Kurator der Kosmodrom-Weekends ist Stephan Kasimir. In Zusammenarbeit mit Literatur Vorarlberg. Das von Ingrid Bertel nach der Aufführung des Stücks stattgefundene Werkstattgespräch war wichtig, weil es den beiden Autoren die Gelegenheit gab, ein bisschen mehr über den Hintergrund zu erzählen, wie das Stück entstanden ist. Man konnte ihnen dabei beim Denken und Entscheiden zuschauen und zuhören. Das Publikum darf sich auf weitere Stücke in dieser Serie freuen. Die Jungen haben viel zu sagen. Man soll hingehen und sich das anhören. 

Vier junge AutorInnen beim Stückewettbewerb „Life in 2050“ ausgezeichnet

Der vom Theater KOSMOS im deutschsprachigen Raum ausgeschriebene KOSMODROM Stückewettbewerb zum Thema „Life in 2050“ brachte zahlreiche und qualitativ überzeugende Einsendungen von jungen AutorInnen und TheatermacherInnen. Die eingereichten Theatertexte wurden anonymisiert von der siebenköpfigen Jury bestehend aus Ingrid Bertel (ORF Vorarlberg Kultur), Christa Dietrich (VN, Kultur), Michaela Spänle (Schauspielerin), Katharina Leissing (Theater Kosmos), Stephan Kasimir (Kurator Kosmodrom), sowie Hubert Dragaschnig und Augustin Jagg (beide Theater KOSMOS) besprochen und bewertet.
Als Siegertext überzeugt hat die Jury der Text „SUPA HELL von Sophie Blomen und Max Reiniger. Den AutorInnen „gelingt mit SUPA HELL eine moderne und frische Form des absurden Theaters. Die von ihnen gesetzten Beckett Bausteine ,Baum,, ,Sand‘ und ,Sonne‘ scheinen wie eine liebevolle Hommage an den Meister des Absurden, die Apokalypse wird zum absurden Spaß“, begründet Kurator Stephan Kasimir die Entscheidung der Jury.
Der zweite Platz wurde an David Attenberger für „Im inneren des Kuchens“ vergeben. Jury-Mitglied Christa Dietrich: „Der Text ist eine Herausforderung, und zwar für die Schauspieler, für ein Regieteam und für das Publikum. Er behandelt die Unberechenbarkeit im Alltag und ein Dilemma, dem wir uns zu stellen haben. Er erzeugt unweigerlich hoch poetische Bilder, die im Idealfall mit der Umsetzung auf der Bühne korrespondieren. Attenberger liefert keine Erklärung, er ruft in leisen Tönen zu einem Abenteuer auf.“
Mit dem dritten Platz ausgezeichnet wurde „Die Ungetrösteten“ von Armin Wühle. „Das Stück wirft einen Blick ins Jahr 2050 auf Basis von Erfahrungen der ,Generation Praktikum‘. Der Text überzeugt mit starken Bildern, einer von Sarkasmus durchdrungenen Situation und vier Figuren, die immer für Überraschung sorgen können - und das liegt nicht zuletzt an der Vielfalt an Sprachfärbungen, über die der Autor mit unangestrengter Eleganz verfügt“, so Jurymitglied Ingrid Bertel.
Die vier AutorInnen werden am 10. Juli im Anschluss an die Aufführung von „Infantizid, Femizid, Suizid“ bei einer öffentlichen Preisverleihung in Anwesenheit der Jury geehrt.

Weitere Vorstellungen: 10. und 11. Juli, jeweils 20 Uhr
Restkarten an der Abendkassa, Tel +43 (0)5574-44034 13 
Theater Kosmos, Bregenz