Neu in den Kinos: „The Substance“ (Foto: Mubi)
Anita Grüneis · 31. Mär 2012 · Theater

Großes Kino, nur eben live – das Wiener Burgtheater zeigt „Eine Familie“ in Schaan

„Erschreckend echt“, meinte ein Besucher nach der Vorstellung von „Eine Familie“, einem Gastspiel des Burgtheaters im SAL in Schaan. Wie recht er hatte! Erschreckend echt das Bühnenbild, die Schauspieler und das Spiegelbild einer Familie, das sie dem Publikum in allen bitterbösen Facetten gezeigt haben. Fünf Stunden reines Schauspiel-Glück.

Wie schaffen sie das, die Schauspieler-Solisten vom Wiener Burgtheater? Jeder ist für sich ein Star und doch werden sie eine Familie, ein Ensemble, das dem Stück der amerikanischen Autorin Tracy Letts einen Blues unterlegt, und dabei zugleich die family Weston wie in einer TV-Soap vorführt. Liegt es daran, dass der Plot so einfach ist? Der Patron der family, ehemaliger Schriftsteller und Alkoholiker, verschwindet, nachdem er eine Indianerin als Hausmädchen eingestellt hat. Die drei Töchter tauchen auf, um der tablettensüchtigen und krebskranken Mutter beizustehen. Auch die Schwester der Mutter und ihr Mann üben sich in Beistand. Als bekannt wird, dass der Patron Selbstmord begangen hat, kippt die sich ohnehin schon in Schieflage befindende Familiensituation in kleinere und größere Dramen, lange gärende Konflikte entzünden sich, alte Hassgefühle reiben sich neu, Geheimnisse werden aufgedeckt und Lebenslügen entblößt. Dazwischen nisten sich altvertraute Gemeinsamkeiten ein und wirken wie Balsam auf die geschundenen Seelen. Wie das eben so üblich ist bei größeren Familienanlässen.

Erschreckend normal

Das kennt jeder von sich selbst, und da auf der Bühne auch alle Altersklassen vertreten sind, konnte sich jeder in einer der Figuren wiederfinden. Alles war erschreckend normal. Wenn beispielsweise die betrogene Ehefrau mit Mühe den Esstisch auszieht und das Geschirr aufdeckt, während ihre leicht schusselige Schwester ununterbrochen von den Dramen ihres Lebens erzählt, um dann ihre neu entdeckten Weisheiten zu verkünden – „Das Beste ist, dass ich jetzt an das Jetzt denke“ oder „ich habe festgestellt, man kann die Zukunft nicht planen“ –, möchte man ihr zurufen: Na bravo, auch schon gemerkt und nun hilf deiner Schwester, pack mit an. Doch die würde das wahrscheinlich gar nicht zulassen in ihrer Hyperaktivität.

Die großen und kleinen Lügen

Die einzige Person, die nicht entblößt wird, bleibt die Indianerin, die mit ihrem leisen Cellospiel die Grundstimmung des Abends wiedergibt. Und doch: Auch sie benutzt die Lüge, um eine der Schwestern zu schonen, die dann aber gnadenlos kontert: „Nun geht es mir gut, weil ich weiß, dass Sie lügen können.“ Ibsen hatte recht, als er schrieb: „Nimm einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und du nimmst ihm zu gleicher Zeit das Glück."  In Tracy Letts fünfstündigem Bühnenepos nehmen sich alle die Lügen und enden in Verzweiflung. Am Schluss trägt die Indianerin ein Gedicht des toten Patrons vor, in dem es unter anderem heißt: „Wir tanzen um den Stachelbaum ... zwischen Reden und Tat fällt der Schatten“.
Ein starkes Stück Schatten, diese Inszenierung von Alvis Hermanis mit viel Licht seitens der Schauspieler. Allen voran Kirsten Dene als Mutter, die ihre ganze Sippschaft vor den Kopf stößt und sie aus dem Haus treibt. Oder Dörte Lyssewski, die geschäftige betrogene Ehefrau, die im Laufe der fünf Stunden ihrer Mutter erschreckend ähnlich wird, Sylvie Rohrer als nahezu androgynes spätes Mädchen, Dorothee Hartinger als naive Plaudertasche oder Sarah Viktoria Frick als bekiffte einsame Vierzehnjährige. Hermanis lässt an diesem Abend „Endstation Sehnsucht“ auf Virginia Woolf und den „Gott des Gemetzels“ treffen. Das ist großes Kino, nur eben live.
Schade, dass der SAL in Schaan eine so schlechte Akustik hat, dass das Zuhören in den hinteren Rängen zur Mühsal wird.

Weitere Aufführung: Samstag, 31.3.2012, 20 Uhr
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