Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Niedermair · 29. Nov 2021 · Theater

Georg Büchners „Lenz“ in der Livestream-Premiere des Vorarlberger Landestheaters

Von 18.00 Uhr an gehörte der Bildschirm am Sonntagabend, dem 28. November 2021, für 52 Minuten einem mitreißenden Schauspieler, hinter dessen Bühnenauftritt als „Lenz“ im Stück von Georg Büchner einen langen Abspann lang Dutzende Namen auftauchten, die ihr Bestes gaben, um die Inszenierung von Jürgen Sarkiss zu einem außergewöhnlichen Livestream Theatererlebnis zu machen. Gewiss, das ist nicht „wirkliches“ Theater, so wie wir es am Vorarlberger Landestheater gewohnt sind, wenn nicht gerade wieder einmal Lockdown ist.

Das Format der Bühnenversion lässt sich nicht einfach auf den Computer-Bildschirm übertragen, auch wenn der große Protagonist des Abends, Nico Raschner, sich in eine Glanzrolle hineinspielt. Da hat alles gepasst, die Regie von Jürgen Sarkiss, das Bühnenbild und das Kostüm von Tassilo Tesche, Licht und Ton von Marco Kelemen, Simon Prantner und Sandro Todeschi, Beleuchtung Arndt Rössler, Fotografie Sarah Mistura und die vielen Assistent:innen, wegen denen man beim Abspann sitzen bleibt wie in guten Kinos, um den Mitwirkenden Respekt zu zollen.

Büchner: Ein Dichter des politischen Engagements

„Büchner war ein Dichter des politischen Engagements“, wie Max Frisch in seiner Büchner-Rede 1958 sagte, „auch wenn er seinen Danton nicht geschrieben hat, um Revolution zu lehren“, sondern „aus der Not eines politischen Menschen“. Büchner, der das Großherzogtum Hessen verändern wollte, schreibt aus dem Duktus des Flüchtenden, der über Basel nach Zürich kommt, in einem Brief an seine Braut: „Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle.“ Büchners „Lenz“ erzählt von der Flucht eines hochverängstigten Künstlers vor der Wirklichkeit wie vor sich selbst, einer Flucht vor den Behörden, wie bei Büchner selbst, der  aus Hessen weg muss, weil er den Mut besaß, kritische Fragen zu stellen, die das Feld der Divergenz zwischen Wahrheit, Wirklichkeit und Wahnsinn öffnet.
Schon Büchners Erzählung ist literarisch gesehen eine Collage, in der er Stoffe und historisch-politische Partikel zur Beschreibung menschlicher und gesellschaftlicher Tragiken ausbreitete und damit bereits in der Entstehungszeit auf dem Fluchtweg nach Zürich die Fermentierung einer dauernden diskursiven Auseinandersetzung schuf. Der Lenz-Stoff ist living theatre, spiegelt die Debattenkultur in der Kunst; das Stück, ist immer wieder aufs Neue mit allen Verzweiflungen und Hoffnungen ausgestattet jene Lebenskulisse, in der wir „mit den Händen an den Himmel stoßen“. Das Leben Georg Büchners (1813 – 1837) hat sich in seinen nur 23 Jahren mehrfach überschlagen. Er war ein politisch Zerrissener, er war Dichter, Naturwissenschaftler, Mediziner und Revolutionär. 1834 hatte er in Gießen die „Gesellschaft der Menschenrechte“ gegründet, einen Geheimbund von Studenten und Handwerkern. Als unter der Parole „Krieg den Palästen, Friede den Hütten“ seine Texte in der sozialrevolutionären Flugschrift Hessischer Landbote veröffentlicht wurden, kam es zu Verhaftungen. Büchner floh ins Exil und kam vier Monate vor seinem Tod über Umwege im Oktober 1836 nach Zürich.

„Die Spannungen im Menschen unserer Zeit aufspüren“ (Max Frisch)

Er wohnte in der Spiegelgasse, der „Avenue of broken revolutions“, im Haus Nummer 12 unmittelbar neben der späteren Exilwohnung Lenins, und wurde an der Universität Zürich Privatdozent im Fach Vergleichende Anatomie. Gleichzeitig arbeitete er am Drama „Woyzeck“, das Fragment blieb. Ende Juli 1835 wurde „Dantons Tod" veröffentlicht; noch im selben Sommer übersetzte Büchner zwei Dramen von Victor Hugo ins Deutsche: „Lucretia Borgia" und „Maria Tudor". Im Herbst beschäftigte er sich mit der Erzählung „Lenz", in der die seelischen Leiden des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold dargestellt werden. Am 19. Februar 1837 verstarb er bereits im Alter von 23 Jahren an Typhus. Büchner wurde auf dem Stadtzürcher Friedhof „Krautgarten“ außerhalb des damaligen Lindentors, wo heute das Kunsthaus Zürich steht, beerdigt. Nach der Einebnung des Friedhofes bettete man 1875 die sterblichen Überreste auf den „Germaniahügel“ um. Dort liegt das Grab noch heute, für sich allein, nicht in einem Friedhof, beim Aussichtspunkt „Rigiblick“, der Bergstation der Seilbahn Rigiblick.

Der „Lenz“ von Jürgen Sarkiss am Landestheater

Das Stück in der Dramaturgie von Ralph Blase passt in diese Tage, die von Emotionalisierungen und Disparitäten, vom täglich stärker zunehmenden Streit über die Haltungen und Perspektiven gegenüber der Corona Pandemie geprägt sind. Der Stoff des „Lenz" ist jedoch nicht nur die verzweifelte Suche eines Menschen, der mit einem starken psychischen Leiden lebt, dessen Geisteszustand zwischen Traum und Traumatisierung pendelt, dessen historische Persönlichkeit, J.M.R. Lenz, ein verzweifeltes Leben führte. „Lenz" ist eine höchst gesellschaftspolitische Erzählung. „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter, graues Gestein. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel graue Wolken, alles so dicht. Er ging gleichgültig weiter.“ So beginnt die Erzählung in der Regie von Jürgen Sarkiss.

Lenz als literarische Figur

Er wurde 150 km östlich von Riga geboren; er studierte von 1768 bis 1770 in Königsberg Theologie, hörte Immanuel Kant und las Jean-Jacques Rousseau. 1771 brach Lenz sein Studium in Königsberg ab und ging gegen den Willen des Vaters nach Straßburg. Dort kam er mit Johann Wolfgang von Goethe in Kontakt. Ende März 1776 folgte Lenz Goethe an den Hof nach Weimar. Die Weimarer Hofgesellschaft nahm ihn zunächst freundlich auf. Doch bereits Anfang Dezember wurde er auf Betreiben Goethes wieder ausgewiesen. Der genaue Hintergrund ist nicht überliefert. Goethe, der danach den persönlichen Kontakt für immer abbrach, erwähnt in seinem Tagebuch nur vage „Lenzens Eseley". Nach einem weiteren längeren Besuch bei Lavater 1777 kam es im November bei einem Aufenthalt in Winterthur bei Christoph Kaufmann zu einem Ausbruch seiner psychischen Krankheit, einer wahrscheinlich katatonen Schizophrenie. Kaufmann schickte Lenz Mitte Januar 1778 zu dem Philanthropen, Sozialreformer und Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im elsässischen Waldersbach, wo er sich vom 20. Januar bis 8. Februar aufhielt. Trotz der Fürsorge von Oberlin und seiner Frau verschlimmerte sich Lenz' geistiger Zustand. Oberlin verfasste über den Aufenthalt von Lenz bei ihm einen Bericht, der wiederum Büchner als Vorlage für seine Novelle „Lenz" diente.

Eine wunderbare Inszenierung

Das Stück in seiner ganzen dramatischen Wucht wirkt noch stundenlang nach. Wo man in gewohnter Weise schon längst vor dem Fernsehbildschirm säße, um sich mit den aktuellen politischen Nachrichten und Diskursen zu beschäftigen, tauchen immer wieder Erinnerungsfetzen aus dieser rasanten Inszenierung auf, die bis ins Tempo des Sprechens hinein das atemlose Keuchen des Lenz spiegelt. Ein Stück weit habe ich den Eindruck, Nico Raschner ist nicht nur als Schauspieler in diese Rolle des Lenz hineingeschlüpft, das Stück mit diesem verrückten Text hat ihn auch hereingeholt und auf die Bühne gestellt. Dass ihm der Text so beeindruckend authentisch über die Lippen kam, hat nicht nur mit seinem großen Talent als Schauspieler zu tun. Es geht auch um eine Empathie den Figuren gegenüber, die uns das Theater zum Diskurs anbietet. Dazu ist Theater ja da. Zur Unterhaltung und zur Auseinandersetzung. Doch: dass einer so überzeugend brillieren kann, braucht es viele Akteurinnen und Akteure im Hintergrund des Bühnenlichts.

Weitere Vorstellungen im Vorarlberger Landestheater:
Mi, 15.12.2021, 19.30 Uhr
Sa, 22.1.2022, 19.30 Uhr